Das Gesetz des Stärkeren kehrt zurück

Im Zuge der Flüchtlingsdebatte vernetzen sich Hooligans europaweit und trauen sich wieder in die Öffentlichkeit

  • Ronny Blaschke
  • Lesedauer: 4 Min.
Vor der EM war die Terrorgefahr zentral - Hooligans waren lange kein Thema mehr. Doch eine neue Gewaltwelle in ganz Europa war in den vergangenen Jahren absehbar. So schlagkräftig wirkte die Szene lange nicht mehr.

Das zentrale Thema vor der EM war die Terrorgefahr, mehr als 90 000 Sicherheitskräfte wurden in Stellung gebracht. Zwar erwähnten die Organisatoren auch das Potenzial für Fan-Ausschreitungen, doch nur wenige Experten rechneten mit massiven Zusammenstößen. Zu abschreckend sei die Repression für Hooligans, glaubten sie. Welch ein Irrtum. Die Bilder aus Marseille waren bei einem großen Turnier seit der EM 2000 in Belgien und den Niederlanden nicht mehr zu sehen. Nach dem Spiel England gegen Russland (1:1) am Samstag stürmten russische Fans den Block des Gegners und prügelten auf englische Anhänger ein. Böller krachten, Attackierte flüchteten.

Schon seit Donnerstag war es in der Stadt drei Tage lang zu Zusammenstößen zwischen Engländern, Russen und Franzosen gekommen. Männer gingen mit Stühlen, Stangen und Flaschen aufeinander los. Die Polizei setzte Tränengas und Wasserwerfer ein. 35 Menschen sollen verletzt sein, ein englischer Fan schwebt in Lebensgefahr. »Die Schande«, titelte die Sportzeitung »L’Équipe« am Sonntag.

Englische und russische Vertreter wollen die Provokationen jeweils bei den gegnerischen Anhängern ausgemacht haben. Zusammen kritisierten sie das angeblich überharte Vorgehen der Polizei. Der Europäische Verband UEFA kündigte Ermittlungen gegen den russischen Verband an. Doch auch das Sicherheitskonzept steht unter Beobachtung: Warum gab es keine Pufferzone zwischen den Fans? Wie gelangte die Pyrotechnik ins Stadion?

Über viele Jahre war die Hooligangewalt aus dem Blickfeld des europäischen Spitzenfußballs geraten. Kampagnen beschäftigten sich mit Rassismus oder Homophobie. Doch in jüngerer Vergangenheit haben sich in mehreren Ländern neue Allianzen gebildet. Mit unterschiedlichen Hintergründen, aber mit einem Ziel: Gewalt und Einschüchterung im Umfeld des Fußballs. Auf prominenter Bühne.

In Deutschland attackierten Hooligans zuletzt antirassistische Ultras in Aachen, Braunschweig und Duisburg. Zeitweilig vernetzten sie sich unter dem Namen »HoGeSa«, Hooligans gegen Salafisten. Anhänger der SG Dynamo sind bei Pegida in Dresden dabei, ähnlich sieht es bei Ablegern der rechtsnationalen Bewegung in anderen Städten aus. Hooligans halten das gesellschaftliche Klima wieder für geeignet, um das Gesetz des Stärkeren zu predigen.

So schlagkräftig wirkte die Szene nicht mehr seit den 90ern. Regelmäßig kam es damals in und um Stadien zu Prügeleien. Der traurige Höhepunkt: 1998 während der WM prügelten deutsche Schläger den französischen Gendarm Daniel Nivel in Lens fast zu Tode. Danach zogen sich viele Hooligans zurück und wollten nicht mehr unter Beobachtung stehen. Doch seit knapp fünf Jahren werden alte Gruppen wie die »Borussenfront« in Dortmund, die »Standarte« in Bremen oder die »Rotfront« in Kaiserslautern wieder aktiver.

Auch aus Frankreich und Russland, aus Ungarn und Belgien, selbst aus Skandinavien werden ähnliche Entwicklungen gemeldet. Gewaltbereite Fans, gestählt in Kampfsportstudios, machen Stimmung gegen Geflüchtete. In Wroclaw zeigten Ultras eine riesige Choreografie. Darauf zu sehen war ein Kreuzritter, der Europa mit einem Schwert verteidigt, während im Mittelmeer Flüchtlingsboote kentern. In Marseille, wo rund 200 000 Muslime leben, brüllten englische Fans nun: »ISIS - Wo bist du?« In Frankreich wird es weitere Risikospiele geben, etwa Deutschland gegen Polen am Donnerstag in Paris. Der DFB verkauft seine Tickets nur über den eigenen Fanklub. Bei Kontrollen stoppte die Bundespolizei am Sonntag bei Trier 18 bekannte Hooligans aus Dresden, die trotzdem nach Frankreich reisen wollten.

Der Ursprung der Szene liegt in England. Seit 1990 werden britische Anhänger von mehreren Sozialarbeitern zu Länderspielen begleitet. Als Reaktion auf Stadionkatastrophen mit Dutzenden Toten in den 80ern wurden überdies Stehplätze abgeschafft, eine Hooligan-Datenbank eingerichtet und ein Netzwerk von Fahndern in zivil geknüpft.

Nach der Jahrtausendwende rückte die Prävention in den Vordergrund. 2500 Mitarbeiter kümmern sich in 20 Vereinen der Premier League um rund 850 Sozialprojekte. Sie geben Nachhilfe, organisieren Bibliotheksbesuche, fördern Mädchen, planen Kleinfeldturniere. Zudem ist keine Nichtregierungsorganisation im Fußball so gut ausgestattet wie die Londoner Antidiskriminierungsinitiative »Kick it out«. Deshalb gingen Gewalt und Rassismus stark zurück. Umso größer ist nun der Schock.

Von dem hohen Sicherheitsstandard ist Russlands Fußball weit entfernt. Regelmäßig kommt es zu Gewalt und Diskriminierung in den Stadien. Geldstrafen für Klubs und Verbote für Auswärtsfans sind die Folgen. Die nächste WM findet 2018 in Russland statt. Die Reaktion von Sportminister Witali Mutko auf die Krawalle von Marseille? »Was hat die WM 2018 damit zu tun?«

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