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Europas radikale Linke in der Such-Falle

Martin Schirdewan über einen Richtungsstreit, den der Fall Griechenland neu befeuert hat

  • Martin Schirdewan
  • Lesedauer: 4 Min.

Wer ist das eigentlich, diese ominöse radikale Linke? Während in Deutschland der Begriff häufig irrtümlicherweise mit autonomem Straßenkampf gleichgesetzt wird, versteht man in Spanien, Italien, Frankreich, Griechenland, Portugal, den Niederlanden und anderen Staaten unter der radikalen Linken die gesellschaftliche Linke jenseits der sozialistischen/sozialdemokratischen Parteien, die ihre Politik auf einen radikalen gesellschaftlichen Wandel ausrichtet: sozial-ökologisch, antikapitalistisch, antirassistisch, nachhaltig, feministisch, friedlich. Auf der Basis eines neuen gesellschaftlichen und ökonomischen Produktionsmodells. Demokratisch. Mit einem Bein auf der Straße, mit dem anderen im Parlament. Mit einer Sprache, die den Bauch berührt und den Kopf dabei nicht vergisst. Mit prominenten Führungsfiguren.

Insbesondere durch die Regierungsübernahme SYRIZAs und die politischen Folgeereignisse in Griechenland sind die Debatten innerhalb der europäischen radikalen Linken massiv vorangetrieben worden. Bislang ohne eine eindeutige Antwort. Die Linke ist mal wieder auf der Suche. Nach sich selbst. In einem Labyrinth von Interessen, Machtverhältnissen, gesellschaftlichen Veränderungen unter dem Diktat der Austerität, von neoliberaler Ideologie geprägter Institutionen und Verträgen sowie einer radikalen Rechten sucht sie nach dem Ausweg. Er soll zu neuer Mobilisierungskraft führen, zu glaubwürdigen politischen Konzepten, zu einem modernen Erscheinungsbild und sprachlicher Attitüde. Kurz: Die radikale Linke sucht nach Inhalt, nach Ideologie im Sinne einer glaubhaften Gesellschaftserzählung und nach einer Kultur, die authentisch und modern zugleich ist.

Auch auf dem kürzlich abgehaltenen Parteitag von SYRIZA wurden diese Fragen diskutiert. Wie kann unter den Bedingungen eines dritten Memorandums, unter ständiger Kontrolle und Bevormundung durch die EU-Institutionen, die Identität als Partei der radikalen Linken in Europa bewahrt werden? Bis vor kurzem galt SYRIZA vielen als Musterbeispiel. Auf der Straße und im Parlament Oppositionsführer, ein klares Profil gegen die Griechenland zerstörende Austerität, eine andere Erzählung für die Entwicklung der griechischen Gesellschaft, vorgetragen von einem jungen Charismatiker. Gerecht, modern, sozial. Doch heute halten sich hartnäckig Gerüchte, die Partei spiele mit dem Gedanken, die linke Parteienfamilie zu verlassen und sich eine neue Heimat zu suchen. Eine, die politisch mehr Einfluss geltend machen kann. Zumindest die Botschaft des Parteitags war eindeutig: SYRIZA ist und bleibt eine Partei der radikalen Linken.

Doch wie kann eine linke Regierung angesichts begrenzter Handlungsspielräume die vielfältigen Krisen und Herausforderungen bewältigen, von denen ihr Land betroffen ist? Die Hoffnung, dass in vielen Ländern der EU, insbesondere der Peripherie, griechische Mehrheitsverhältnisse einkehren, hat sich zwar vorerst zerschlagen, doch muss diese Frage beantwortet werden, wenn man sich eine Veränderung der herrschenden Verhältnisse wünscht. SYRIZA hat in ihrer Regierungszeit ein soziales Hilfsprogramm aufgelegt, das die schlimmste Not einer halben Millionen Griechinnen und Griechen lindern soll, den Zugang zum Gesundheitssystem auch für die drei Millionen Griechinnen und Griechen wiederhergestellt, die nicht krankenversichert sind, die Einstellung von 10.000 Medizinern und die Reduzierung der Arbeitslosigkeit realisiert und kann sich seit einigen Monaten auch wieder über ein – wenn auch verhaltenes – Wirtschaftswachstum freuen. Kleine Schritte in die richtige Richtung. Doch so recht will keine Freude aufkommen. Zu groß ist die Kritik an der erzwungenen Durchführung der Privatisierungen, an der Migrationspolitik, an der vermeintlich erkennbaren Entfremdung von den sozialen Bewegungen. Zu groß die Differenz zwischen dem Anspruch, die Austeritätspolitik zu beenden, und der Realität, den mühsam gegen den Widerstand der Institutionen erkämpften Verbesserungen.

Starke Freunde braucht das Land, das dieselben Interessen verfolgt. Welche Allianzen kann eine radikale Linke heutzutage eingehen? Welche muss sie vielleicht sogar eingehen?

Dass für ein soziales Europa die notwendigen Rahmenbedingungen durch andere Machtverhältnisse geschaffen werden müssen, ist klar. Zwei strategische Linien werden dafür derzeit diskutiert: Zum einen ist das der sogenannte Club Med. Die Staats- und Regierungschefs der Mittelmeerstaaten formulierten im September 2016 trotz Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Parteienfamilien ein gemeinsames Interesse – gegen die fortgesetzte Austerität. Eine Allianz der Peripherie gegen eine Politik, die im Zentrum entwickelt und von dort aus in der gesamten EU und Europa implementiert wird. Zum anderen wird nach einer Allianz der progressiven Kräfte in Europa gesucht. Sie soll sich vom Süden bis ins Zentrum erstrecken, Grüne, Linke, Sozialisten/Sozialdemokraten, Gewerkschaften einbeziehen – das sogenannte Forum der progressiven Kräfte.

Beide Strategien werden von Teilen SYRIZAS, aber auch von den anderen linken Parteien in der EU mit Skepsis beobachtet, fürchten sie doch, dass eine radikale Politik, die über Reformen hinaus eine weitreichende Transformation der EU anstrebt, durch solche Allianzen in Frage gestellt werden könnte. Dass es dazu nicht kommt, liegt auch in unserer Verantwortung. Deshalb gilt es auch zukünftig, gemeinsam und solidarisch für ein Ende des neoliberalen EU-Kurses zu kämpfen.

Die Rosa-Luxemburg-Stiftung Brüssel_Athen wird in Kürze eine Studie zu den von den Europäischen Institutionen erzwungenen Privatisierungen veröffentlichen. Diese kann bei Interesse kostenfrei bestellt werden.

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