Solid zu Rot-Rot-Grün: Wir wollen mehr als das kleinere Übel!
Linksjugend ['solid] Berlin attestiert dem neuen Senat in einem »nd«-Gastbeitrag gute Absichten - ein grundlegender Kurswechsel bleibe jedoch aus
Die Mitglieder der Berliner Linkspartei haben sich entschieden. 89,3 Prozent stimmten für den rot-rot-grünen Koalitionsvertrag, der »Bezahlbares Wohnen für Alle«, »Eine humanitäre Asylpolitik« und »Beste Bildungschancen« verspricht. Vieles von dem, was sich Rot-Rot-Grün (R2G) im Koalitionsvertrag vornimmt, klingt gut, einiges bleibt sehr unambitioniert. Ob es mit der seit Jahrzehnten regierenden SPD und den Grünen tatsächlich einen Kurswechsel in den zentralen Fragen der Berliner Landespolitik geben wird, bleibt jedoch fraglich. Nicht zuletzt, weil die Handlungsspielräume fortschrittlicher Politik denkbar klein sind, da ein Großteil wichtiger Bereiche, unter anderem die Asyl- oder Wohnungspolitik, in der Bundesgesetzgebung geregelt wird.
Ob ein fortschrittliches Regierungsprojekt gelingt, hängt außerdem davon ab, ob es R2G schafft, eine Allianz mit den Akteuren der Stadtgesellschaft einzugehen. Schon beim Lesen des Koalitionsvertrages lässt sich feststellen, dass sich vor allem dort progressive Forderungen durchgesetzt haben, wo es innerhalb der letzten Jahre Druck auf der Straße gegeben hat. Die Anbindung der Linkspartei an die Initiativen und Bewegungen dieser Stadt mussten nach der Erfahrung von Rot-Rot erst mühsam wieder aufgebaut werden. Nun ist es eine der zentralen Aufgaben, diese Anbindung zu forcieren und für den Kampf gegen steigende Mieten, marode Schulen und für eine soziale Stadt zu nutzen.
»Bezahlbares Wohnen für Alle«
Das zentrale Thema in Berlin ist und bleibt »Mieten und Wohnen«. Kein Wunder in einer Stadt, in der seit 2010 die Mieten um 26 Prozent gestiegen sind und rund 100.000 Sozialwohnungen fehlen. Die wirtschaftsfreundliche Politik der letzten Jahre, in der kommunale Wohnungsunternehmen zu Schleuderpreisen privatisiert wurden, und nicht zuletzt die katastrophalen Fehler unter Rot-Rot haben Berlin in diese Krise geführt. Die Ziele, die sich R2G gesetzt hat, um in dieser Situation einen Kurswechsel zu ermöglichen, halten wir allerdings für ungenügend.
Es freut uns zu lesen, dass der Verkauf von Wohnungen und Flächen an private Eigentümer gestoppt werden soll. Wichtige Maßnahmen wie diese können aber nicht darüber hinweg täuschen, dass die Zielsetzung im Bereich der Stadtpolitik unter dem Strich zu unambitioniert ist. Ein zentrales Beispiel dafür ist, dass in den nächsten fünf Jahren der öffentliche Wohnungsbestand lediglich um 55.000 zusätzliche Wohnungen erhöht werden soll, wovon wiederum nur 15.000 neu gebaute Sozialwohnungen sind. Zeitgleich werden in den nächsten fünf Jahren jedoch durch das Auslaufen der Bindungen im bestehenden sozialen Wohnungsbau mindestens 20.000 bisherige Sozialwohnungen verloren gehen.
Außerdem bleibt der Koalitionsvertrag in wichtigen Punkten zu schwammig. So zum Beispiel in der sozialen Richtsatzmiete mit einkommensabhängigen Mietenstufen. Die SPD hat sich lange Zeit strikt gegen die Richtsatzmiete ausgesprochen und dass sie sich nicht durchsetzen konnte, liegt vor allem an der Stadtgesellschaft, die seit Jahren Druck macht. Fass eine soziale Richtsatzmiete eingeführt werden soll, ist zwar erstmal ein Erfolg – die konkrete Ausgestaltung allerdings noch komplett offen. Die SPD will die Anbindung an den Mietspiegel des privaten Wohnungsmarktes, LINKE und Grüne wollen politisch festgesetzte Mietobergrenzen. Welches Modell sich durchsetzt, ist völlig unklar.
»Eine humanitäre Asylpolitik«
Der Bereich Geflüchteten- und Asylpolitik gehört zu den großen Kontroversen rund um die Regierungsbeteiligung der Linken. Gerade mit Blick nach Thüringen lässt sich festhalten, dass ein linkes Regierungsbündnis und eine linke Asylpolitik zwei verschiedene Paar Schuhe sind. Auch im Berliner Koalitionsvertrag sind viele Zielsetzungen so formuliert, dass man über ihre Umsetzung nur mutmaßen kann.
Nichtsdestotrotz enthält er aber wichtige Punkte: Die Erleichterung des Familiennachzuges, den Verzicht auf eine Wohnsitzauflage für Geflüchtete und das Vorhaben, sich im Bundesrat für eine humanere Asylpolitik einzusetzen. Außerdem verfolgt die Koalition ein Konzept, mit dem die Unterbringung geflüchteter Menschen dezentral in Wohnungen gewährleistet werden soll. Inwiefern das mit der unambitionierten Stadtpolitik kollidiert, werden die nächsten fünf Jahre zeigen.
Was Abschiebungen betrifft, so sollen »rechtliche Möglichkeiten zugunsten der Geflüchteten ausgeschöpft werden.« Was das konkret heißt, lässt sich jetzt noch nicht sagen. Was wir aber sicher wissen: Berlin wird weiter abschieben und sich so zwangsläufig zum Handlanger der rassistischen Bundesgesetzgebung machen.
»Beste Bildungschancen«
Schon im Wahlkampf haben alle drei rot-rot-grünen Parteien klar gemacht, dass der Themenkomplex »Bildung« auf ihrer Agenda ganz weit oben steht und eindeutig einer Veränderung bedarf. Auch im Koalitionsvertrag findet sich der Wunsch nach einem gerechteren Bildungssystem, in dem schulische Erfolge nicht vom Elternhaus abhängig sind. Gemeinschaftsschulen sollen »qualitativ und quantitativ weiterentwickelt«, die »Heterogenität der Schüler*innen soll positiv aufgenommen« und »interkulturelles Zusammenleben« soll unter anderem im Bereich der Mehrsprachigkeit gefördert werden.
Diese Richtung halten wir für die Richtige, leider bleiben jedoch die gemachten Schritte viel zu zaghaft. Dass Gemeinschaftsschulen gestärkt werden sollen, reicht nicht aus. Unserer Meinung nach bräuchte es eine grundsätzliche Abkehr vom mehrgliedrigen Schulsystem, hin zu einer inklusiven Schule für Alle. Eine Regierung, die sich mit dem Bildungssystem an sich nicht anlegt und längst überfällige Reformen nicht tätig, etwa die Abschaffung des Probejahrs am Gymnasium, verpasst die Möglichkeit, die Schule grundsätzlich zu einem gerechteren Ort zu machen.
Übertrefft unsere Erwartung!
R2G wird zwar nicht für die grundlegende Veränderung sorgen, die diese Stadt verdient hätte – hat trotzdem aber einige unterstützenswerte Vorhaben im Programm. Pläne wie die Rekommunalisierung des Berliner Energienetzes, der Privatisierungstopp oder die Umgehung der Schuldenbremse halten wir für richtige Korrekturen, die es so unter Rot-Schwarz wohl nicht gegeben hätte. Auch wenn uns das nicht darüber hinwegtrösten kann, dass einige wichtige Reformen verpasst wurden, hoffen wir, dass nun im Rahmen der bestehenden Spielräume eine möglichst fortschrittliche Politik gemacht wird.
Wir als Jugendverband mit rot-rotem Erfahrungshintergrund stehen der Regierungsbeteiligung der Linkspartei und dem Koalitionspapier skeptisch gegenüber, was nicht heißt, dass wir uns nicht gerne vom Gegenteil überzeugen lassen. Doch Papier ist geduldig und die Erfahrung zeigt, dass ein Koalitionsvertrag und die reale Arbeit einer Regierung zwei verschiedene Dinge sind. Wir werden Rot-Rot-Grün an seinen Taten und nicht an seinen Vorhaben messen. Ob es gelingt, für sichtbare Veränderungen zu sorgen, werden die nächsten fünf Jahre zeigen. Notwendig sind sie allemal!
In der neuen App »nd.Digital« lesen Sie alle Ausgaben des »nd« ganz bequem online und offline. Die App ist frei von Werbung und ohne Tracking. Sie ist verfügbar für iOS (zum Download im Apple-Store), Android (zum Download im Google Play Store) und als Web-Version im Browser (zur Web-Version). Weitere Hinweise und FAQs auf dasnd.de/digital.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.
Vielen Dank!