Was macht ein gestandener Philosoph, der langsam in die Jahre kommt, mit seinen während des Studiums in Leningrad peu à peu erworbenen Leninbänden? Er vertieft sich erneut darin, jetzt begleitet von akkumulierter Belesenheit. Das Ergebnis ist erstaunlich. Der Philosoph liest nicht einfach so für sich hin, sondern setzt sich ein Ziel: Michael Brie will nicht einen zweiten Blick auf Lenin werfen, »sondern auf das ideologisch-politisch-gesellschaftliche System, an dessen Entstehung er entscheidend mitgewirkt hat.«
Die Feststellung des Autors, der »Leninismus konnte nur deshalb unangefochten Wahrheit für sich behaupten, weil er die Allmacht hatte, jede öffentliche Widerrede zu unterbinden«, lässt das Büchlein deutlich zu spät kommen. Aber wer wäre gerade dieser Allmacht wegen in der Lage gewesen, aus den akademischen und politischen Zentren des »real existierenden Sozialismus« heraus sich solches als Erkenntnisziel zu setzen oder gar solches als Erkenntnis einer Werkanalyse vorzustellen? Selbst Michael Schumanns Feststellung von 1989 trennte den Stalinismus, mit dem als System ab damals unwiderruflich gebrochen werden sollte, vom Leninismus, den er ungeschoren davonkommen ließ. Perestroika erschien vielen noch als Rückkehr zu Lenin.
Brie stellt das nicht nur in Frage, sondern verweist es in den Bereich falsch verstandenen Leninismus. Insoweit kommt das Buch, egal wann, zur rechten Zeit. Es ist ein Hohelied auf die Beachtung der Widersprüche in allen Verhältnissen, ein Hohelied auf die Dialektik und zugleich eine Warnschrift, diesen methodischen Weg der Analyse zu verlassen. Wer Politik konzipiert und realisiert, wer Interessen feststellt und sie im politischen Raum durchsetzen will, darf dies nie vergessen. In beiden Fällen beruft sich Brie auf Lenin selbst; einmal auf die Autorität des Analysten dialektischer Widersprüche, die diesen zu einer tragfähigen Konzeption von Revolution führten, andererseits auf die tragischen Irrtümer des Revolutionärs und Staatsgründers dort, wo er die Dialektik beiseite schob.
Brie nimmt sich Lenin in drei historischen Phasen vor, jeweils eingeleitet mit »Was tun?«: Lenins Jahre in der Schweiz (1914 - 1917), Lenin im Kampf für eine neue Welt (1917 - 1918) und Lenin während der Revolution am Scheideweg (1920 - 1923). Die Schweizer Jahre werden weitgehend als Jahre der Ohnmacht verstanden, verursacht durch das »Ja« der Sozialdemokratie zum Krieg in allen beteiligten Ländern. Lenin setzte dem ein kategorisches »Nein« entgegen, um beginnend mit der Arbeit an einer »Philosophie der dialektischen Praxis« schließlich stufenweise und immer das Ziel des Aufbaus einer revolutionären Kraft vor Augen zur Ausarbeitung einer Strategie zu kommen, die in konkreten Einstiegsprojekten ein »alternatives Ja« ermöglicht. Wie in allen Kapiteln begegnet man auch hier vielem Bekanntem und staunt zugleich über neue Perspektiven in Bries Blick darauf.
Mit Hegel beschäftigt sich Lenin intensiv, um sich der Dialektik zu versichern. Damit gelang ihm »die Verbindung einer Generalaussage - die Epoche der sozialistischen Revolution habe begonnen - mit der Fähigkeit zur konkreten Analyse der konkreten Situation und der Aufstellung sehr spezifischer Handlungsorientierungen.« Die Erkenntnis der Widersprüche im Kapitalismus, der in die Phase des Imperialismus eingetreten war, eröffnete die Möglichkeit einer sozialistischen Revolution. Es ist die Verwandlung des imperialistischen Weltkrieges in Bürgerkriege in allen imperialistischen Ländern. Schon in diesem Kapitel aber zeigt sich der Grund für notwendige fundamentale Kritik an Lenins Wirken. Immer wieder verlässt er die Dialektik zugunsten von Vereinfachungen und Verabsolutierungen im Interesse von Macht.
Den Staat verstand Lenin ausschließlich als Instrument zur Sicherung der Herrschaft einer Klasse. Das galt ihm auch für die »Diktatur des Proletariats«. Die Schutzfunktion des Staates für die Freiheit der Einzelnen, entstanden als Fortschritt im bürgerlichen Staat, geriet damit aus dem Blick. Individuelle Freiheit galt nichts. Alles war ihm die »Unterordnung aller unter einen zentralisierten Zweck«, repräsentiert in der Allmacht der Partei. Im Konfliktfall verwandelt sich Loyalität in Schuldgefühl. Die Gründe für die Fehler Lenins in den anderen beiden Phasen wurden evident.
Revolution braucht keinen Beschluss eines gewählten Gremiums. Die Wiederbelebung des Kapitalismus in der Neuen Ökonomischen Politik musste durch den repressiven Staat ungefährlich gemacht werden. Anstelle der solidarischen Vermittlung von Widersprüchen trat deren antagonistische Austragung. Mit dieser Praxis widersprach sich Lenin freilich selbst. Denn er versuchte theoretisch zu unterscheiden zwischen einer »Kakophonie« als Resultat des Austragens von Widersprüchen und einer »Symphonie«, die, machte man es richtig, dabei entstehen sollte.
Interessant sind in diesem Zusammenhang Lenins Pläne zur Erweiterung des ZK der Partei. Es sollten junge mittlere Kader, gewachsen erst nach der Revolution, den alten Kadern, die die Akteure der Revolution waren, zur Seite gestellt werden. Ihr »Klasseninstinkt« sollte die Revolution weitertreiben. Könnte man darin noch eine Umsetzung von Lenins Sympathie für Trotzkis Auffassung von der Notwendigkeit einer »ununterbrochenen Revolution« vermuten, so belehrt einen die folgende politische Wirklichkeit eines anderen. Stalin nutzte den leninschen Auftrag zur Liquidierung aller »alten Kader«.
»Der Leninismus war ein Widerspruch in sich und damit - für eine bestimmte Zeit - entwicklungsfähig«. Das Ende war aber gerade dialektisch gesehen ebenso vorherbestimmt. Ohne Raum für öffentliche Kritik waren die Analyse und Wirkung der Widersprüche in der Gesellschaft für die Entwicklung eines Sozialismus der Emanzipation von Ausbeutung und Gewalt strukturell blockiert. Der Sozialismus leninscher Prägung endete selbst in Gewalt und Ausbeutung.
Michael Brie schließt schließlich messerscharf: »Wer über den Stalinismus redet, darf vom Leninismus nicht schweigen.«
Michael Brie: Lenin neu entdecken. Das hellblaue Bändchen zur Dialektik der Revolution & Metaphysik der Herrschaft. VSA. 160 S., br., 12 €.
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Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1057282.viel-zu-spaet-zur-rechten-zeit.html