Ruhe, bitte!
Mit der gegenseitigen Rücksichtnahme ist es in einem Mietshaus nicht weit her. Zumal in unserem, wo sich etagenweise zwei Einraumwohnungen, in denen nachtaktive Singles leben, mit einer Mehrraumwohnung abwechseln, in der Familien mit Kindern hausen. Wenn die Singles aufstehen, gehen die Kinder zu Bett. Da für viele Menschen zum abendlichen Wachwerden ein wummernder Beat aus den Bassboxen gehört, kommt es gelegentlich zu nachbarlichen Verstimmungen.
Wenn unser jüngster Sohn mal wieder nicht einschlafen will, weil seine Matratze im Techno-Rhythmus aus der unteren Nachbarwohnung auf- und abhüpft, sehe ich mich dazu gezwungen, dem jungen Musikliebhaber einen Besuch abzustatten. Meistens genügt ein verzweifelter Blick aus meinen nachtblau unterlaufenen Augen, damit er sich einsichtig zeigt. Einmal habe ich ihm auch einfach wortlos einen dick gepolsterten Kopfhörer über die Türschwelle gereicht, den er zwar als Leihgabe ausschlug, aber die Geste führte trotzdem zum Erfolg.
Mit der Nachbarin in der Wohnung über uns teilt der Nachgiebige leider nur den Musikgeschmack, nicht die Manieren. Als das dröhnende Staccato einmal aus ihrer Wohnung zu uns drang, klingelte ich an der Tür. Sie öffnete, hörte mich an, verschwand und drehte leiser. Aber schon, als ich Sekunden später unten ankam, war das Lautstärkelevel wieder erreicht. Wir wiederholten das Spiel wieder und wieder.
Beim vierten Versuch hatte ich dann meinen grimmigsten Blick aufgesetzt und den schreienden Säugling als Argumentationshilfe auf dem Arm mit nach oben genommen. Die Tür der Nachbarin aber blieb verschlossen. Vermutlich wollte sie uns weismachen, dass sie mittlerweile das Haus verlassen und lediglich vergessen hatte, die Musik auszuschalten. Eine halbe Stunde später war dann jedoch Ruhe, denn wer beim fünften Mal klingelte, waren zwei Uniformierte, die der Frau androhten, ihre Boxen mitzunehmen.
Der Vorfall liegt schon einige Zeit zurück, und obwohl mir das Klingelschild Anlass zu der Annahme gibt, dass immer noch dieselbe Nachbarin in dieser Wohnung lebt, sind wir uns seitdem nie wieder begegnet. Das liegt zum einen daran, dass mein peinlicher Polizeiruf nachhaltig gewirkt hat und fortan nicht viel mehr als das Klackern ihrer Sohlen durch die hellhörige Decke zu uns gedrungen ist. Dass wir uns auch im Treppenhaus niemals begegnen, ist zum anderen mit unserem um zwölf Stunden zeitversetzten Verständnis von Wach- und Schlafenszeiten zu erklären.
Der Säugling ist inzwischen zu einem munteren Dreijährigen herangewachsen, der liebend gern Fußball spielt - bevorzugt in den frühen Morgenstunden auf unserem Innenhof. Als er letztens einmal zu einer Stunde lautstark dem Ball hinterherjauchzte, in der unsere Nachbarn gerade zu Bett zu gehen pflegen, ersuchte ich ihn, etwas Rücksicht zu nehmen. Seine Entgegnung fand ich dann aber genauso plausibel wie das vorübergehende Aussetzen der Lärmschutzgesetze während der kommenden WM: »Mann, Papa, beim Fußball kann man nicht leise sein!«
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