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Eine wunderbare Katastrophe

Paketboten machen zurzeit jede Menge Überstunden. Seit einem Jahr gilt ein Gesetz, das die Arbeitsbedingungen verbessern soll. Hat das geklappt?

  • Johanna Treblin
  • Lesedauer: 4 Min.

Ganz ehrlich? Es war die reine Katastrophe«, sagt der eine. »Wunderbar!« sagt der andere. Die Frage, auf die beide Paketzusteller antworten, ist die gleiche: »Wie ist das Weihnachtsgeschäft gelaufen?« Beide haben die gleiche Erfahrung gemacht, interpretieren sie nur unterschiedlich: Im Dezember wurden laut DHL täglich rund 20 Prozent mehr Pakete ausgeliefert als in den Jahren zuvor. Einzelne Paketzusteller berichten von weit größeren Zuwächsen. Ahmed A. zum Beispiel - er will anonym bleiben - trägt an normalen Tagen 120 bis 130 Pakete aus. In den Wochen vor Weihnachten waren es 170 bis 200, erzählt er. Zwei Überstunden hat er pro Tag gemacht, genauso wie sein Kollege Firad F., auch er will seinen richtigen Namen nicht nennen. Beide sind angestellt bei Subunternehmen von DHL, beide können ihre Überstunden ausgleichen. A. ist zufrieden, wie es gelaufen ist. F. ist froh, dass es jetzt wieder entspannter wird.

Die Vorweihnachtszeit ist immer die beste Zeit für den Onlinehandel. Die Corona-Pandemie und vor allem der Teil-Lockdown kurz vor Weihnachten haben den Versandhändlern und Lieferdiensten zusätzliche Aufträge beschert. »Seit März«, sagt Verdi-Gewerkschaftssekretär Detlef Conrad, zuständig für die Bereiche Speditionen und Logistik, »war praktisch durchgängig Starkverkehr.«

Am 11. März nennt die Weltgesundheitsorganisation WHO die Coronakrise eine Pandemie. Elf Tage später einigen sich Bund und Länder in Deutschland auf strenge Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen. Die meisten Geschäfte müssen schließen, ausgenommen ist etwa der Lebensmittelhandel. Die Bestellungen im Internet ziehen an. DHL stellt rund 4000 neue befristete Beschäftigte in der Zustellung und Sortierung ein. Für den Weihnachtshandel werden noch einmal deutschlandweit 10 000 Menschen eingestellt, das war allerdings 2019 auch so.

Insgesamt arbeiten bei DHL rund 160 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Zustellung und Sortierung. Zum Jahresende gab es also 20 Prozent mehr Pakete, aber nur 2,5 Prozent mehr Personal. Ohne Überstunden ist das kaum zu machen. Dass diese durch Freizeit ausgeglichen werden können und auch Mitarbeitende von Subunternehmen öfter sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind, ist ein Verdienst der SPD. Im November 2019 wurde per Gesetz die Nachunternehmerhaftung eingeführt. Firmen, die andere Firmen für sich arbeiten lassen, sind künftig verpflichtet, Sozialabgaben für säumige Subunternehmer selbst zu zahlen. Das sollte dazu führen, dass DHL, Hermes und Co. lieber wieder selbst einstellen.

Hat das geklappt? Ahmad A. und Firad F. sind beide fest angestellt. Ein Sprecher der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi sagt, gut ein Jahr nach Inkrafttreten des Gesetzes seien »erste positive Wirkungen« zu erkennen. Es habe »ein Umdenken in der Branche angestoßen«. Insbesondere Unternehmen wie Hermes und DPD, bekannt dafür, mit vielen Subunternehmen und Soloselbstständigen zu arbeiten, »stellen erste Beschäftigte fest bei sich an«.

Mehr aber auch nicht. Branchenkenner sehen als mögliche Gründe das benötigte Kapital: Ein eigenes Vertriebsnetz bedeutet nicht nur höhere Kosten fürs Personal, sondern auch für Fahrzeuge. So sieht man die Auslieferer von DHL meist mit firmeneigenen gelben Wagen fahren. Viele Pakete von der Otto-Tochter Hermes werden seit Jahren hingegen mit logofreien weißen Vans oder Leihwagen transportiert. Das soll nun wieder rückgängig gemacht werden. Dass Hermes kürzlich bekanntgab, sich vom Subunternehmen Liefery trennen zu wollen, das unter anderem für Zalando gefahren ist, könnte ein Indiz dafür sein, dass sich Hermes Geld für den Aufbau einer eigenen Flotte beschaffen will.

Von der Nachunternehmerregelung unbeeindruckt zeigt sich bisher Amazon. Der Versandriese beschäftigt nur wenige Festangestellte in der Zustellung, der Konzern setzt lieber auf Soloselbstständige, die im Nebenjob Pakete ausfahren und unterstützt Kleinunternehmer, Flotten von bis zu 20 Lkw aufzubauen. Amazon arbeite zudem mit über 50 mittelgroßen »Lieferpartnern« zusammen, erklärt ein Sprecher. Die meisten Waren würden aber von »den großen Carriern«, also DHL und Hermes, ausgefahren.

Dabei ist der Onlinekonzern Krisengewinnler und sollte sich höhere Personalkosten leisten können. Im dritten Quartal machte Amazon weltweit 37 Prozent mehr Umsatz als im Vorjahreszeitraum. Der Gewinn verdreifachte sich sogar. Wie sich das in der Anzahl verkaufter Waren und versandter Pakete in Deutschland ausdrücken ließe, will der Sprecher mit Verweis auf Wettbewerber nicht sagen.

Die Nachunternehmerhaftung ist kein Allheilmittel gegen prekäre Arbeitsbedingungen in der Paketbranche. In der Baubranche gibt es dieses Instrument bereits seit 13 Jahren. Und dennoch ist der Bau auch heute noch das Paradebeispiel für undurchschaubare Subunternehmerketten.

Mehr Wirkung hätte die Nachunternehmerhaftung, wenn ihre Einhaltung auch überprüft werden könnte. Verdi und Arbeitsforscher beispielsweise vom Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) an der Universität Duisburg-Essen fordern daher mehr Kontrollen. Der Zoll verfolgt seit einer Reform im Jahr 2016 eine andere Strategie, so die Wissenschaftler vom IAQ: Anlasslose Kontrollen wurden weitgehend abgeschafft, dafür gibt es vier bis acht branchenbezogene Schwerpunktkontrollen pro Jahr. Das Speditions-, Transport- und Logistikgewerbe war zuletzt im Jahr 2017 dran. Das bedeutet aber nicht, dass jedes Unternehmen überprüft wird: Betriebe werden im Schnitt, so recherchierte Buzzfeed-News-Deutschland kürzlich, nur alle 25 Jahre kontrolliert - in der Coronakrise sogar noch seltener. Da rutscht einiges durch.

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