Kein Plan für Unterbringung

Bezirkshandeln zu Wohnungslosigkeit unterstreicht Ruf nach gesamtstädtischer Steuerung

  • Claudia Krieg
  • Lesedauer: 3 Min.

»Als ob Obdachlosigkeit an den Bezirksgrenzen haltmachen würde«, zeigt sich Fatoş Topaç erstaunt gegenüber »nd«. Die Sprecherin für Sozialpolitik und Pflegepolitik der Berliner Grünen-Fraktion hat vom Senat die Antwort auf eine Schriftliche Anfrage zur stadtweiten Unterbringung von wohnungslosen EU-Bürger*innen erhalten, die »nd« exklusiv vorliegt. Sozialträger wie die Berliner Stadtmission berichten schon seit einigen Jahren, dass deren Anteil an den wohnungs- und obdachlosen Menschen in der Hauptstadt immer mehr zunimmt.

EU-Bürger*innen stehen im Rahmen der Vereinbarungen zur Freizügigkeit Sozialleistungen zu. Laut den 2019 neu herausgegebenen Leitlinien der Wohnungslosenhilfe soll zudem die Unterbringung nach dem Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetz (ASOG) des Landes Berlin so unproblematisch wie möglich allen Wohnungsnotfällen zur Verfügung gestellt werden. Dennoch, das bestätigt die Antwort aus dem Haus von Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Linke), gibt es gerade bei der wachsenden Gruppe wohnungs- und obdachloser EU-Bürger*innen kein einheitliches bezirkliches Handeln gemäß dieser Vorgaben. In manchen Bezirken dient die Anspruchsberechtigung qua EU-Recht dann auch als Argument für die Nichtversorgung nach dem ASOG.

In Steglitz-Zehlendorf etwa »werden EU-Bürger*innen untergebracht, wenn kein Sozialleistungsanspruch besteht«. In Neukölln wird untergebracht, falls keine anderweitige Zuständigkeit für Ausländer*innen oder Asylbewerber*innen beim Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten besteht. In Treptow-Köpenick prüft man bei unfreiwilliger Obdachlosigkeit ungeachtet der EU-Staatsangehörigkeit oder eines ausländerrechtlichen Aufenthaltsstatus. In Reinickendorf gilt »der Grundsatz«, dass es sich bei der bezirklichen Unterbringung nicht um eine soziale Leistung, sondern um die Verhinderung einer »Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung« handele. In Charlottenburg-Wilmersdorf wird nicht untergebracht, sofern eine Zuständigkeit nach den Ausführungsvorschriften in einem anderen Bezirk liegt.

In einzelnen Bezirken wird die Unterbringung für zwei Wochen finanziert, in anderen, zum Beispiel Spandau, unbefristet, je nach Prüfung des Einzelfalls. In Tempelhof-Schöneberg verlangt man im Falle der Unterbringung die Mitwirkung der Betroffenen.

Eine eher zweifelhafte überbezirkliche Gemeinsamkeit ist der Umstand, dass in einem Großteil der Bezirke keine priorisierte Unterbringung von Familien mit Kindern und Minderjährigen stattfindet.

»Am Ende scheint die Bearbeitung im Sinne der Betroffenen davon abhängig zu sein, ob das Anliegen von einer Person mit ausreichend Sensibilität bearbeitet wird, damit am Ende eine bedarfsgerechte Unterbringung steht«, sagt dazu Grünen-Politikerin Topaç.

Vieles widerspricht der Auffassung des Senats. »Obdachlosen Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern, die nicht über eine Unterkunft (verfügen), die Schutz vor den Unbilden des Wetters und Raum für die notwendigsten Lebensbedürfnisse bietet, und die sich nicht selbst helfen können, (muss) von den Bezirken als zuständige Ordnungs- und Gefahrenabwehrbehörden ein vorläufiges und unbefristetes Unterkommen geeigneter Art zur Verfügung gestellt werden«, heißt es aus der Sozialverwaltung, vertreten durch Staatssekretär Alexander Fischer (Linke).

Die Sachverhalte untermauern auch die Kritik von Sozialsenatorin Breitenbach, die den Bezirken »Wildwuchs« bei den Unterkünften und fehlende Qualitätsstandards vorwirft. Auch deshalb startet im August das Pilotprojekt einer gesamtstädtischen Steuerung zur Unterbringung wohnungs- und obdachloser Menschen - pandemiebedingt verzögert und zunächst in nur zwei Bezirken. So schnell wie möglich soll es auf die gesamte Stadt ausgeweitet werden. Zugleich fehlt es an bedarfsgerechtem Wohnraum, der überhaupt vermittelt werden kann. Breitenbach will im Rahmen der Haushaltsverhandlungen für die erste Hälfte der zukünftigen Legislatur für feste prozentuale Anteile verfügbar gemachter Wohnungen aus dem landeseigenen Bestand sowie zukünftigem Neubau sorgen.

»Ich hoffe, es bleibt nicht bei der Postulation ambitionierter Ziele«, erklärt Fatoş Topaç. Sie will Vorgaben durch fachpolitisch erarbeitete Zielvereinbarungen. »Es darf nicht noch fünf Jahre so weitergehen«, stellt sich die Grünen-Politikerin an die Seite der Sozialsenatorin und fordert zugleich eine »klare Führung« bei der Abschaffung von Obdach- und Wohnungslosigkeit. Davon würden alle profitieren - nicht zuletzt die Betroffenen.

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