Am Anfang ist es nur ein kleines Rinnsal. Einem kleinen Vogel gleich, der von Ast zu Ast hüpft, springen die einzelnen Tropfen über die Kiesel. Ich halte die Hand dazwischen und lasse das Wasser des kühlen Mini-Bächleins durch meine Finger tröpfeln. Kaum zu glauben, dass dies ein 40 bis 50 Meter breiter Fluss wird. Ein wenig ehrfürchtig betrachte ich die winzige Quelle des Flusses und staune über das Wunder der Natur: wie aus nahezu nichts ein 230 Kilometer langes grünblaues Paradies entsteht.
Es ist die Ruhr gemeint, die einer ganzen Region ihren Namen gab. Auf 230 Kilometern von der Quelle in Winterberg bis zu ihrer Mündung in den Thein in Duisburg hat sie das Leben der Menschen und die Landschaft im Laufe der Zeit geprägt. Diese 230 Kilometer gilt es nun zu erkunden - auf dem Ruhrtal-Radweg. Er wurde 2006 eröffnet und wurde 2009 vom Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club ADFC als Qualitätsroute mit vier Sternen ausgezeichnet. Ein Großteil der Strecke wird autofrei sein, allein 50 Prozent der Radwege liegen abseits von Straßen und führen meist direkt am Ufer entlang. Das Landschaftsbild wird nach und nach von der waldreichen Mittelgebirgslandschaft über eine flussnahe Kulturlandschaft im Sauerland bis hin zur industriellen Kulturlandschaft der Metropole Ruhr wechseln.
Start ist in der höchstgelegenen Stadt Westfalens: Winterberg. Hier entspringt die kleine Quelle auf 670 Höhenmetern im buchengeschmückten Hang des Ruhrkopfs am Naturpark Rothaargebirge. Ein erstes Teilstück absolviere ich mit dem Zug: In Schlangenlinien geht es am gewundenen Flüsschen entlang. Die Ruhr begrüßt plätschernd die Städte Olsberg, Meschede und Oventrop und legt dann weiter flussabwärts als nördliche Ruhrschleife ihren Arm fast beschützend um Arnsberg, das wirtschaftliche und kulturelle Zentrum des Hochsauerlandkreises. Die knapp 74 000 Einwohner zählende Stadt liegt mehr als 400 Höhenmeter tiefer.
Hier ist nun der wirkliche Startpunkt meiner E-Bike-Tour. Ich radle durch verwinkelte Gassen und an traditionellen Fachwerkhäusern vorbei bis zum Alten Markt. Der Glockenturm ist das Wahrzeichen der Stadt. Das markante Schloss, das um 1100 angelegt wurde, thront auf dem 256 Meter hohen Schlossberg. Von hier oben habe ich einen fantastischen Blick auf die Ruhr und kann schon sehen, wo mich meine Reise hinführt.
Der nächste Tag ist sonnig und weiter flussabwärts habe ich nun Karl Grote als meinen Compagnon an meiner Seite. Der Sauerländer erkundet regelmäßig auf seinen Radtouren die Region und hat einiges zu erzählen. Es geht durch Wald- und Feldgebiete und vorbei an den Orten Nass und Neheim seicht bergab. Nach 28 Kilometern halten wir in Wickede an einer Gedenktafel, bei deren Einweihung Karl live dabei war: »Sie steht für rund 1500 Menschen, die innerhalb von Minuten zu Tode kamen«, erklärt er mir. Es sei die Nacht auf den 17. Mai 1943 gewesen, als die Talsperre der Möhne durch britische Bombenangriffe während des Zweiten Weltkriegs zerstört wurde. 90 Millionen Kubikmeter Wasser schufen eine gigantische Flutwelle, die selbst im fernen Ruhrgebiet noch alles mitriss, was ihr im Weg stand. Hunderte Gebäude wurden zerstört, Dutzende Eisenbahn- und Straßenbrücken weggespült und mehrere Kraftwerke außer Betrieb gesetzt. »Das war das primäre Ziel der Briten - sie wollten auf diese Weise die deutsche Rüstungsindustrie lahmlegen«, erklärt er. »Viel schlimmer noch war allerdings der Tod der vielen Menschen, die den überraschenden Fluten nicht entkamen, darunter auch 600 osteuropäische Zwangsarbeiterinnen in Arnsberg-Neheim, die hinter Stacheldraht eingesperrt waren und in den Fluten ertranken.«
Wir radeln weiter flussabwärts: Kleine Sandbänke und Inseln - Lebensräume für Insekten, Vögel und Pflanzen - tauchen immer wieder auf, hinter jeder Flussbiegung wartet ein neues perfektes Landschaftsbild. Wasservögel schnattern und krächzen um die Wette, sogar ein Eisvogel leuchtet durch das Blätterwerk eines Baumes. »Kaum zu glauben, dass die Ruhr mal ein fast totes Gewässer war«, erzählt mir mein Weggefährte. »Der Fluss wurde begradigt und verbaut, als Abwasserkanal und Sammelbecken für alle möglichen giftigen Industriereste missbraucht. Von der einstigen natürlichen Flusslandschaft und ihren Bewohnern über und unter Wasser war nicht mehr viel übrig«, erklärt er mir.
Aus einem wilden Mittelgebirgsfluss des Sauerlandes sei auf diese Weise ein durch Stauwehre und Wasserentnahmen geprägtes, ausgebautes und oft wenig naturnahes Gewässer geworden. »Doch das ist nun Vergangenheit, denn in den letzten Jahrzehnten ist die Ruhr durch umfangreiche Renaturierung in ein Naturparadies zurückverwandelt worden«, fügt er hinzu. Sie wurde innerhalb ihres Flussbettes wieder wild.
Das Ergebnis ist mehr als deutlich: Der Strom durchzieht heute als natürlich mäanderndes Band das Sauerland und das dicht besiedelte Ruhrgebiet und ist wieder Lebensraum für Reiher, Gänse und Schwäne sowie für Hechte, Brassen, Rotaugen und Schleien - manchmal sogar auch für Lachse, Meerforellen und Maifische. Weiterer Pluspunkt: Es gibt mit wenigen Ausnahmen keine Schifffahrt auf der Ruhr. Die Natur bleibt nahezu ungestört.
Acht Kilometer weiter, in Fröndenberg, trennen sich unsere Wege vor dem Kettenschmiedemuseum. Ab jetzt geht es für mich wieder allein weiter. Aber die Beschilderung der Strecke ist gut, und ich komme schnell voran. In Schwerte, der kleinen Stadt am Hang des Ardeygebirges, ist der Akku des E-Bikes leer. Doch es gibt Hilfe vom Fahrrad-Fachmarkt in der Straße Im Reiche des Wassers, dessen Mitarbeiter innerhalb von eineinhalb Stunden mein Rad soweit wieder laden, dass ich bis zu meinem Etappenziel nach Herdecke komme. In Schwerte bestaune ich allerdings erst einmal den legendären schiefen Turm der St.-Viktor-Kirche, einer gotischen Hallenkirche, die weithin sichtbar das Zentrum der Schwerter Altstadt am Marktplatz markiert.
Das Rad rollt fast von selbst durch Wald- und Sumpfgebiete und am Ruhrufer entlang die restlichen 15 Kilometer bis in die Fachwerkstatt Herdecke. Besonderes Highlight ist das Ruhrviadukt, das am Beginn des Harkortsees - einem Ruhr-Stausee zwischen Herdecke und Hagen - auf 131 Metern Länge mit zwölf halbkreisförmigen Bögen das Tal überspannt. Die Flutwelle nach der Bombardierung der Möhnetalsperre brachte einen Pfeiler zum Einsturz, aber sonst blieb sie unversehrt. Im Licht der Abendsonne schimmert das Viadukt golden.
Der nächste Morgen indes ist verregnet. Es ist, als hätte man den Farb- gegen einen Schwarz-Weiß-Film eingetauscht. Ich fahre durch die Gegend, wo das Sauerland ins Ruhrgebiet übergeht. Das Muttental, die Wiege des Steinkohle-Bergbaus, ist gleich um die Ecke. Als im 18. Jahrhundert die Industrialisierung von England herüberschwappte, begann man beiderseits der Ruhr mit der Ausbeutung der ergiebigen Kohleflöze. Bereits Anfang des Ersten Weltkriegs waren schon 440 000 Kumpel in Lohn und Brot - und förderten 114 Millionen Tonnen Steinkohle zutage. Zum Abtransport nutzten sie die Ruhr.
Die Räder rollen über Witten am nächsten Relikt der Industriegeschichte vorbei: der Zeche Nachtigall. Hier also ist die Wiege des Ruhrbergbaus und die Zeche Nachtigall die Mutter aller Bergwerke im Pott. Das lag daran, dass der Abbau hier sehr einfach vonstatten ging. Denn die Kohlenflöze reichten hier bis an die Oberfläche, so dass die Kumpel sie durch waagerechte Stollen ganz einfach aus dem Berg holen konnten. Bei einer Führung kann ich den Stollen erkunden - und begebe mich auf eine kurze Reise in die für die damaligen Bergleute extrem gefährliche Vergangenheit.
Überhaupt ist das Ruhrgebiet durchlöchert wie ein Sieb. Die Halden sind zu Bergen aufgetürmt und prägen heute die Landschaft. Was geblieben ist, ist das industrielle Erbe und beschert der Region neben den Museen auch Radwege auf stillgelegten Bahntrassen. Unweit der Zeche Nachtigall komme ich in den Genuss einer kleinen Bootsfahrt - und setze in wenigen Minuten mit der Fähre Hardenstein bei der gleichnamigen Burg auf die andere Ruhrseite über. Durch das Freizeitgebiet Heveney am Kemnader See radelt es sich wie von selbst.
Dann gibt der Leinpfad die Fahrt im Grünen vor. Früher haben hier Menschen und Zugtiere die Frachtschiffe flussaufwärts gezogen, heute nehmen Spaziergänger, Jogger und Radler den Weg in Beschlag. In Hattingen ist die nächste Übernachtung. Vorher bestaune ich noch das Bügeleisenhaus und das Rathaus aus dem Jahr 1576.
Das Ziel ist fast schon in greifbarer Nähe - noch 72 Kilometer bis zur Rheinmündung. Ich radle mit fliegenden Schwänen um die Wette, nur das Geräusch ihrer Schwingen in meinen Ohren. Mein Weg führt am Ufer des Baldeneysees entlang, wo die Ruhr auf eine Breite von ganzen 350 Kilometern anwächst. Dann wirft der Fluss seine letzten Schleifen - bei Kupferdreh, bei Kettwig mit seiner hübschen Altstadt und eine letzte bei Oberhausen. Und schon rückt das große Duisburger Hafengelände ins Blickfeld. Ich folge dem Damm und sehe schon von weitem die orangefarbene Stele. Vor der Skulptur »Rheinorange« vermischen sich die Wassertropfen aus der Ruhr mit dem Rhein - aus zwei wird eins. Und so ziehen sie als Rhein der Nordsee entgegen.
Ich bin am Ziel - glücklich, aber auch ein wenig wehmütig, diesen Fluss zu verlassen. Ich habe ihn auf unserer gemeinsamen Reise in den Norden kennengelernt. Doch gleich dem Sprichwort »Es wird noch viel Wasser den Bach hinunterfließen« weiß ich, ich kann wiederkommen. Der Fluss wartet auf mich.
Weiterführende Informationen:
www.ruhrtalradweg.de[1]
www.ruhr-tourismus.de[2]
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1155539.ruhrtal-radweg-die-lange-reise-des-flusses.html