Die Verteidigung der Traurigkeit

Ein Maro Heft wie geschaffen für Pandemie und Ampelkoalition

Sich selbst reflektieren, in der Gesellschaft, das ist das Basisprogramm der Kritischen Theorie. Ist ein bisschen aus der Mode gekommen. Die meisten Menschen denken nur über sich selbst nach, ohne die Gesellschaft. Oft finden sie da nicht viel und sind enttäuscht - über die Gesellschaft. Würden sie diesem Gefühl einmal nachgehen, wäre das der Anfang eines politischen Programms.

Über diese gedankliche wie gefühlte Bewegung hat Bettina Fellmann einen kurzen, bemerkenswerten Aufsatz veröffentlicht - in der Reihe »Maro Hefte«. Dieses ist »ein erschöpftes Heft«, wie es im Untertitel heißt, denn es ist gedacht »Zur Verteidigung der Traurigkeit«. Es basiert auf einem älteren Text, den Fellmann schon 2012 verfasst hat, passt aber ganz hervorragend in die Zeit der Pandemie und der garantierten Enttäuschungen, die die neue Ampel-Regierung für alle die bereithält, die unbedingt an sie glauben möchten, als Agentur für erneuerbare politische Energien.

Fellmann arbeitet als Krankenschwester. Im Altenheim sagte ihr eine alte Frau: »Wir sind Gefangene«. Und die Pflegekräfte gleich mit. Sie sind ständig unter Zeitdruck, »fast jede Abweichung sorgt für Hektik und Frust«. Denn das Pflegesystem diene »in erster Linie nicht dem subjektiven Wohlbefinden der Einzelnen, sondern systemischer Stabilität«. Politisch formuliert sie es so: »Die Einzelnen meinen zu wissen, was sie quält und die Gesellschaft kann bleiben, wie sie ist.« Das ist die Krux der Kritischen Theorie.

Fellmanns lebenspraktische Empfehlung lautet, sich vom Anspruch zu verabschieden, »nicht verrückt zu werden - und stattdessen nach und nach zu begreifen, wie verrückt wir als Teil des Ganzen immer schon sind«. Unter anderem, wenn wir der kapitalistischen Leitidee folgen, dass es nur auf das gesellschaftsunabhängig gedachte Individuum ankomme und auf sonst gar nichts. Diese Idee schafft Frustration. Das übliche Selbstmitleid als Reaktion darauf wirkt lähmend, der Hass auf andere zerstörerisch, doch die Traurigkeit über eine falsch eingerichtete Welt hat für Fellmann emanzipatorisches Potenzial. Denn Traurigkeit ist kein schwächeres Gefühl als Wut, betont sie. Oder wie Adorno fragte: »Was wäre Glück, das sich nicht mäße an der unmeßbaren Trauer dessen, was ist? Denn verstört ist der Weltlauf«.

Der klassischen Kritischen Theorie von Horkheimer, Adorno und Marcuse, im Prinzip die einzige, die wirklich zählt, wie im klassischen Rock’n’Roll nur Presley, Diddley und Berry, wird oft Schwerverständlichkeit vorgeworfen. Fellmanns Sprache und Argumentation ist hingegen so klar und einleuchtend wie das Wecker-Design der Firma Braun. Um das Aufwachen geht es auch bei ihr, wenn sie immer wieder auf die Szene im ersten »Matrix«-Film zurückkommt, wenn Neo gefragt wird, ob er die blaue oder die rote Pille nehmen möchte. Die blaue steht fürs Weiterträumen, die rote für die Konfusion. Welche würden Sie nehmen?

Bettina Fellmann: Zur Verteidigung der Traurigkeit. Illustrationen von Rebekka Weihofen. Maro Heft Nr. 5, 32 S., 16 €.

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