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  • Tag der genitalen Selbstbestimmung

»Die Kinder werden nicht gefragt«

Ephraim Seidenberg und Victor Schiering kämpfen gegen die Amputation der Vorhaut bei Kindern

  • Ulrike Wagener
  • Lesedauer: 4 Min.

40 Prozent der Menschen mit Penis weltweit sind beschnitten. Sie kritisieren diese Praxis. Warum?

Victor Schiering: Eigentlich müsste man das anders formulieren: Einem Drittel der späteren Männer wird als Kind, ohne ihre Einwilligung, ein Teil des Genitals abgeschnitten. Der Zwang ist die Voraussetzung dafür, dass es hier zu einem Massenphänomen kommt.

Interview

Ephraim Seidenberg (31) ist Informatiker und lebt in Zürich. Er setzt sich als Co-Präsident des Schweizer Betroffenenvereins Prepuce.ch für genitale Selbstbestimmung ein. Victor Schiering (49) ist Musiker und Vorsitzender von Mogis, einem Verein von Betroffenen von Eingriffen in die sexuelle Selbstbestimmung im Kindes- und Jugendalter. Ulrike Wagener sprach mit ihnen über körperliche Unversehrtheit und männliche Verletzbarkeit. Am 7. Mai findet in Köln eine Kundgebung statt. Infos: genitale-selbstbestimmung.de

Sie haben die Formulierung angesprochen. Bei weiblichen Genitalien spricht man von Genitalverstümmelung, bei männlichen von Beschneidung. Müssten wir diese Begriffe verändern?

Seidenberg: Uns geht es um Kinderschutz, unabhängig vom Geschlecht. Die Begriffe nutze ich abhängig vom Kontext. Für mich selbst würde ich von Verstümmelung sprechen. Das Abschneiden der Vorhaut ist eine genitale Verletzung und eine Missachtung meines Rechts auf körperliche Unversehrtheit. Aber ich will das niemandem aufzwingen, deshalb spreche ich allgemein vom Abschneiden der Vorhaut oder Vorhautamputation.

Bei Ihnen wurde der Eingriff als Säugling durchgeführt. Wie kam es dazu, dass sie das als Problem wahrnehmen?

Seidenberg: Hauptsächlich dadurch, dass mich mein Bruder darauf angesprochen hat. Ich dachte früher, das sei besser. Das gehörte zu meiner jüdischen Identität. Dann begann die körperliche Auseinandersetzung. Und mit der Zeit ist mir bewusst geworden, dass bei mir ein Schaden vorhanden ist.

Wie sieht der aus?

Schiering: Mit dem Abschneiden der Vorhaut verlieren Sie unwiederbringlich das erogenste Gewebe am männlichen Penis. Sie haben häufig Narbenwulste an ihrem Genital. Und oft nicht die Möglichkeit, schmerzfrei masturbieren zu können, weil Sie keine oder nur wenig bewegliche Haut am Penis haben. Viele benutzen Gleitgel, weil es sonst weh tut.

Seidenberg: Dadurch, dass die Bedeckung der Eichel fehlt, entstehen unerwünschte Reize und das kann unter Umständen den Schlaf stören – etwa bei Erektionen.

Vor zehn Jahren, am 7. Mai 2012, wurde die Beschneidung eines Jungen durch ein Kölner Gericht als Körperverletzung beurteilt. Damals wurde auch der weltweite Tag der genitalen Selbstbestimmung initiiert. Kurze Zeit später wurde die rituelle Beschneidung gesetzlich erlaubt. Was hat sich in der Zwischenzeit getan?

Schiering: Der Gesetzgeber hat nicht nur rituelle Vorhautamputationen erlaubt, sondern jegliche medizinisch nicht notwendige. Seitdem hat sich sehr viel getan, besonders im medizinischen Sektor. Dort, und nicht im kulturell-religiösen Bereich, passieren in Deutschland 90 Prozent der Eingriffe. Daran sieht man, dass es hier nicht um einen Kulturkampf geht, sondern dass das ein gesamtgesellschaftliches Thema ist. Die neuen medizinischen Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinderchirurgie sehen sehr wenige Gründe für eine Vorhautamputation vor.

Das Gesetz, das das Abschneiden der Vorhaut erlaubt, wird oft mit Religionsfreiheit begründet. Kritiker*innen wird vorgeworfen, antisemitische oder antimuslimische Vorurteile zu fördern …

Seidenberg: Ich habe das Urteil von Köln vor zehn Jahren selbst als Angriff auf meine jüdische Identität empfunden. Durch meine Auseinandersetzung mit dem Thema habe ich aber realisiert, dass jüdisches Leben dadurch nicht gefährdet wird. Es stärkt die gesellschaftliche Vielfalt, wenn allen Menschen unabhängig von Herkunft und Geschlecht ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit zugestanden wird.

Oft wird auch mit hygienischen Gründen argumentiert oder damit, dass sich das Ansteckungsrisiko mit HIV reduziere.

Schiering: Die Kulturen, die das praktizieren, versuchen immer dafür Rechtfertigungen zu finden. Im 19. Jahrhundert war es das Verhindern von Masturbation, heute ist es das Vorbeugen von Krankheiten. Man kann immer Körperteile abschneiden, die danach nicht mehr erkranken. Peniskrebs ist eine der seltensten Krankheiten beim Mann, Brustkrebs ist eine sehr häufige und teils lebensbedrohliche Erkrankung bei Frauen. Trotzdem würde niemand auf die Idee kommen, heranwachsenden Frauen prophylaktisch und ohne ihre Einwilligung die Brüste abzuschneiden – auch wenn man damit eine gewisse Zahl an Frauen retten könnte.

In einem Artikel der »Mens Health« von 2020 wird die Vorhaut als »luxuriöse Sonderausstattung« bezeichnet. Warum gibt es so wenig Wissen darüber?

Seidenberg: Es ist ein komplett patriarchales Verständnis, wenn man sagt, es sei bei einem Menschen mit Penis nicht wichtig, dass er seinen ganzen Körper hat. Für mich war es sehr wichtig wahrzunehmen, was in der Frauen- und queeren Bewegung gemacht wurde. Gerade wenn es darum geht, über Gefühle oder eigene Verletzbarkeit zu sprechen. Als Mann gibt es da nicht viel, worauf wir zurückgreifen können.

Sollte Beschneidung verboten werden?

Schiering: Körperverletzung an Kindern ist verboten. Wir treten nur dafür ein, dass bei der Vorhaut die gleichen Maßstäbe gelten wie anderswo. Wenn man Genitalien mit Messern limitiert, ist das immer eine Form von Normierung. Kinder werden nicht gefragt, ob sie damit einverstanden sind. Der Gesetzgeber muss sich dieser Situation stellen. Wir haben in Deutschland drei Gesetze: Je nachdem, wie ein Kind zwischen den Beinen aussieht, erfährt es unterschiedliche Schutzgrade. Und das kann in einer Gesellschaft, die sich der Gleichheit vor dem Gesetz verpflichtet sieht, keinen Bestand haben.

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