Das Kotti-Panoptikum

Was bedeutet Sicherheit? In der Kontroverse um die Kotti-Wache geraten Anwohner und Politik aneinander

  • Nora Noll
  • Lesedauer: 5 Min.
Marie Schubenz (l.) fordert Innensenatorin Iris Spranger (2. v. r.) auf, die geplante Kotti-Wache zu überdenken.
Marie Schubenz (l.) fordert Innensenatorin Iris Spranger (2. v. r.) auf, die geplante Kotti-Wache zu überdenken.

Es ist eng auf dem Balkon des Zentrum Kreuzberg, Fotografen, Journalistinnen und Fraktionsmitglieder drängen sich um Iris Spranger. Direkt neben ihr stehen drei Personenschützer – der Kotti gilt der SPD-Innensenatorin nicht als sicherer Ort. Vor zehn Tagen griffen Unbekannte ihr Bürgerbüro in Biesdorf an, neben Buttersäure und Glasschaden hinterließen sie den Schriftzug »Keine Kotti-Wache«. Trotz des Anschlags stellt sich Spranger am Montag darauf zusammen mit dem SPD-Fraktionsvorsitzenden Raed Saleh und der SPD-Bezirksabgeordneten Sevim Aydin an die Balustrade über der Adalbertstraße. Dort, wo die zukünftige Polizeiwache vom ersten Stock des Hochhauses aus den Kotti überblicken wird, redet sie über die voranschreitende Planung.

3,5 Millionen Euro stehen für den Umbau des ehemaligen Wettbüros zur Polizeistation bereit, das hat das Abgeordnetenhaus im Haushaltsbeschluss am selben Tag entschieden. Das ist eine Million mehr als die Kosten von 2,5 Millionen, die Mitte April publik wurden, und das Vierzehnfache des im Vorfeld kommunizierten Budgets von 250 000 Euro. »Es wird nicht immer teurer«, sagt der Sprecher des Berliner Immobilienmanagements (BIM), der ebenfalls zum Pressetermin erschienen ist. Die erste, niedrige Kalkulation habe nur die Kosten für die Planung betroffen, nun sei das Budget für das tatsächliche Bauvorhaben beschlossen worden. Mehrere Millionen für die Einrichtung von 200 Quadratmetern klängen zwar nach viel. Aber die nötigen Sicherheitsvorkehrungen wie auch die technische Ausstattung der Räume sei teuer: »Das sind ja nicht nur ein paar Tische«, so der Sprecher.

Dass es sich nicht nur um ein paar Tische handelt, wissen auch die Anwohner*innen. Marie Schubenz lebt im Hochhaus Zentrum Kreuzberg, ehemals Neues Kreuzberger Zentrum und immer noch als NKZ bekannt. Sie engagiert sich im Mieterbeirat und sieht besonders den ausgewählten Standort kritisch. Einerseits sei ein Wohnhaus kein Ort für eine Sicherheitsbehörde. Außerdem hätte die Lage eine symbolische Kraft: »Die Wache liegt über den Köpfen der Menschen«, sagt Schubenz zu Spranger, »wie ein Panoptikum«. Dabei solle es doch ebenbürtig und bürgernah zugehen. Auch der Planungsprozess sei von oben herab, über die Köpfe der Nachbarschaft hinweg verlaufen. »Wir sind offen für eine konstruktive Zusammenarbeit«, so Schubenz. Aber bei der Standortfrage hätte die Innenverwaltung den Beirat nicht miteinbezogen. An diesem Montag nutzt Schubenz die Gelegenheit und appelliert an die Innensenatorin: »Es ist noch nicht zu spät, auf uns zu hören.« Spranger schüttelt den Kopf. »Nee«, sagt sie, »nee«. Es hätte sich nach langer Prüfung nur das ehemalige Wettbüro angeboten.

Der Ort ist nicht der einzige Streitpunkt. Eine weitere Frage betrifft die generelle Notwendigkeit von mehr Polizei. Auch Schubenz wünscht sich einen sicheren Kotti – gleichzeitig glaubt sie nicht daran, dass mehr Polizei und Überwachung die sozialen Probleme wie Obdachlosigkeit und Armut vor Ort lösen werden. Sie bezieht sich auf die soziologische Studie »Leben zwischen Dreck und Drogen«. Darin zeigen Wissenschaftler*innen der Humboldt Universität basierend auf einer Umfrage mit 323 Anwohner*innen, wie wenig tatsächliche Kriminalität und subjektives Sicherheitsempfinden am Kottbusser Tor zusammenhängen. Sichtbaren Drogenhandel und -konsum empfänden beispielsweise viele als gefährlich, obwohl von Abhängigen weniger Risiko für Außenstehende ausgehe als von unbemerkten Autoknackern. Öffentliche Druckpunkte würden dem Unbehagen Abhilfe verschaffen, Strafverfolgung von Drogendelikten das Problem nur verdrängen, heißt es in der Studie. Zurzeit treiben sogenannte Kontrolldelikte die Kriminalstatistik nach oben. Von 1300 Straftaten in sieben Monaten am sogenannten kriminalitätsbelasteten Ort rund um das Kottbusser Tor macht der Besitz von Drogen ein Viertel aus.

Gut ein Drittel der Befragten wünscht sich mehr Polizeipräsenz im Kiez. Iris Spranger bezieht sich hingegen auf Gewerbetreibende, die mehrheitlich die neue Wache begrüßen würden. Eine Stichprobe bestätigt diese Behauptung nur halb: Der Betreiber von Lasan, einem kurdisch-irakischen Restaurant unterhalb des Café Kotti, findet die Wache »sehr gut«. Drogenabhängige hätte seine Kunden gestört, zeitweise hätte er einen eigenen Sicherheitsdienst engagieren müssen. Ein Mitarbeiter des Spätkaufs Kottiwood denkt, mehr Polizei mache den Kiez »besser für Touristen«, sagt aber auch, dass es am Kotti immer »Stress mit der Polizei« geben werde. Und der Florist im Blumenladen Dilek befürchtet, dass konstante Kontrolle auch das Leben von Gewerbetreibenden erschwert: »Dann stünden wir unter Beobachtung und könnten nicht mal kurz für Ein- und Ausladung im Halteverbot stehen.«

Spranger hatte noch am Montag die Endgültigkeit der Entscheidung betont und den Umbaubeginn für Ende Juni in Aussicht gestellt. Am Mittwochabend hatte die Bezirksverordnetenversammlung von Friedrichshain-Kreuzberg das Bezirksamt aufgefordert, die Senatsinnenverwaltung zu einem Runden Tisch mit allen Akteur*innen zu bewegen. »Wenn eine Wache am Kottbusser Tor als Fremdkörper wahrgenommen wird, wird sie keinen Erfolg haben können«, heißt es in dem Beschlussantrag. Vasili Franco, innenpolitischer Sprecher der Grünen, begrüßt die Initiative: Iris Spranger habe Bürger*innenbeteiligung in Aussicht gestellt, »jetzt ist sie am Zug, um ihren Worten auch Taten folgen zu lassen«, so Franco zu »nd«.

2016 und 2018 hatte es bereits vom Bezirk organisierte Nachbarschaftstreffen gegeben, wo neben Kriminalität unter anderem auch Partytourismus, Müll und das Fehlen öffentlicher Toiletten besprochen wurden. Matti, Sprecher der Mieter*innen-Initiative Kotti und Co., der nicht seinen vollen Namen in der Zeitung lesen möchte, hält genau solche Runden für notwendig. Nur ein Format mit Vertreter*innen von Kitas und Museen sowie Gewerbetreibenden und Mieter*innen werde der »Multilayer-Situation« am Kotti gerecht. Die Ergebnisse der bisherigen Runden seien versandet, kritisiert er. Umso besser wäre es daher, den Austausch wieder aufleben zu lassen. Denn auch wenn die Meinungen zur Polizei auseinander gingen: niemand wolle die Wache im Zentrum Kreuzberg.

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