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Marktkonforme Demokratie
Großbritanniens Krise zeigt: Die Finanzmärkte regieren wieder, die Politik muss sich ihrem Urteil beugen
Die britische Regierung hat eine phänomenale Niederlage eingesteckt. Ihr neoliberales Programm hat zu einer kleinen Finanzkrise geführt, die zuerst den Finanzminister und am Donnerstag Premierministerin Liz Truss das Amt kostete. Dass die konservative Brexit-Partei mit ihren Steuersenkungen für Reiche nicht durchgekommen ist, ist allerdings kein Anlass für Schadenfreude. Denn nicht nur stehen britischen Arbeitnehmern weiterhin jahrelang sinkende Lebensstandards bevor. Dass hier ein mächtiger G7-Staat mit Weltwährung vor den Märkten eingeknickt ist, verweist zudem auf den prekären Zustand des Weltfinanzsystems, in dem die nächste Krise nur eine Frage der Zeit ist.
Angetreten war Truss mit einer Problemdiagnose, die weithin geteilt wurde: Großbritanniens Wirtschaft erzielt zu wenig Wachstum. Ins Amt gewählt wurde sie wegen ihres Versprechens, diesen Missstand zu beheben, und zwar durch massive Steuererleichterungen, auch für Wohlhabende und Unternehmen. Flankiert wurde dies durch eine Energiepreisbremse für private Haushalte über zwei Jahre. Die Kosten dieser Programme summierten sich auf etwa 60 Milliarden Pfund im laufenden Fiskaljahr, im nächsten wären 100 Milliarden fällig gewesen, etwa vier Prozent der britischen Wirtschaftsleistung. Finanziert über steigende Schulden. »Mit ihren Fiskalplänen testet Truss die Grenzen der britischen Kreditwürdigkeit«, kommentierte Ende September Philip Aldrick von der Finanzagentur Bloomberg.
Was darauf folgte, wird zwar als »Chaos an den Finanzmärkten« beschrieben. Doch waren die Abläufe weniger chaotisch, sondern folgten streng der Investorenlogik: Die Ratingagentur Fitch senkte den Ausblick für die britische Kreditwürdigkeit von »stabil« auf »negativ«. Das durch den absehbaren Schuldenanstieg erhöhte Investorenrisiko quittierten die Märkte mit steigenden Zinsen und einem Absturz der Landeswährung Pfund. Eine tiefere Krise verhinderte nur die britische Zentralbank, die Anleihen ihrer Regierung aufkaufte, als sie an den Märkten keiner mehr haben wollte. Finanzminister Kwasi Kwarteng musste daraufhin seinen Hut nehmen, sein Nachfolger Jeremy Hunt kassierte diese Woche den Finanzplan ein und die Premierministerin entschuldigte sich öffentlich dafür, die britische Finanzstabilität in Gefahr gebracht zu haben. Am Donnerstag trat Truss zurück mit der Begründung, sie sei nicht in der Lage, das versprochene Wirtschaftswachstum zu liefern.
Wer trägt die Schuld?
Die Schuld an dem Desaster wird der Regierung zugeschrieben: Mit ihren Steuerplänen habe das »unbedarft wirkende Duo Truss/Kwarteng« eine »verantwortungslose Finanzpolitik« betrieben, rügte der britische »Economist«. Es dürfte sich hier allerdings nicht bloß um einen Politikfehler gehandelt haben. Vielmehr ist Großbritannien prominentes Opfer einer Weltlage geworden, die der Internationale Währungsfonds (IWF) vergangene Woche als »neue Ära der Weltwirtschaft« bezeichnete. Dieser neuen Ära sehen sich derzeit alle Regierungen ausgesetzt. Praktisch bemerkbar macht sie sich ihnen als Widerspruch bei der Bekämpfung der hohen Inflationsrate.
Ausgangspunkt sind die globalen Schulden, die 2007 noch bei 195 Prozent der Weltwirtschaftsleistung lagen, bis zum Pandemiejahr 2020 auf 256 Prozent stiegen und seitdem kaum gesunken sind. Dieser Anstieg ist ein Ergebnis rasch aufeinanderfolgender Krisen: große Finanzkrise, Eurokrise, Coronakrise und nun Energiekrise. Auf all diese Krisen reagierten Staaten mit der Aufnahme neuer Schulden, um Unternehmen und Haushalte zu stützen, Banken zu retten und das Wachstum halbwegs aufrecht zu erhalten. Ermöglicht wurde ihnen dies durch die niedrigen Zinsen, die die Zentralbanken garantierten, indem sie über Billionen Dollar Staatsanleihen aufkauften und so zu Großgläubigern ihrer Regierungen wurden. Zum Höhepunkt in der Pandemie hielten sie Finanzanlagen über 15 000 Milliarden Dollar. Es war das System der »Fiscal Dominance«, also der Dominanz des Staatshaushaltes, unter dessen Notwendigkeiten sich alles unterzuordnen hatte – auch die Anleger an den Finanzmärkten, die auf Zinseinnahmen verzichten mussten.
Konkurrenz um Kredit
Und dann kam die Inflation, bei deren Bekämpfung sich derzeit ein gigantischer Widerspruch auftut: Zur Senkung der Inflation müssen die Zinsen steigen. Das aber belastet massiv das Wirtschaftswachstum, das ohnehin durch den Preisanstieg gedrückt wird. Um Unternehmen und private Haushalte zu stützen und darüber das Wachstum zu retten, legen Regierungen daher weitere Milliardenprogramme auf. Dazu kommen weitere staatliche Programme für Aufrüstung und Energieautonomie, für Investitionen in Klimaschutz, Digitalisierung und weitere strategische Zukunftsfelder, auf denen das künftige Wachstum erwartet wird. »Angesichts der vergangenen Schocks sind Regierungsinterventionen nötig, wie es sie, würde ich sagen, seit dem Kalten Krieg nicht gegeben hat«, so Jacob Kirkegaard vom Washingtoner Peterson Institute. Die Finanzierung dieser Programme treibt nicht nur die ohnehin hohen Schulden weiter nach oben. Die dadurch zusätzlich generierte Nachfrage nährt darüber hinaus die Erwartung anhaltend hoher Inflation. Um sie zu bekämpfen und Kapitalabfluss zu stoppen, erhöhen alle Länder daher massiv die Zinsen, was ihre Wirtschaften schädigt. Dieser Kreislauf unterminiert die Kreditwürdigkeit zahlreicher Länder, und an den Finanzmärkten hat die Suche nach den schwächsten Gliedern begonnen. Einige wurden schon ausfindig gemacht: Sri Lanka, Pakistan, Ägypten und andere mussten beim IWF Hilfskredite beantragen. Weitere werden folgen: Mehr als ein Viertel aller Schwellenländer steht laut IWF am Rande des Zahlungsausfalles oder hat ihn schon hinter sich.
In dieser globalen Konkurrenz um Kredit, also um das »Vertrauen« der Finanzanleger, hat auch Großbritannien einen heftigen Rückschlag erlebt. Erklärt wird er zwar mit Fehlern der Regierung. »Aber was, wenn Großbritannien gar keine Ausnahme ist«, schreibt Marcus Ashworth auf Bloomberg, »sondern bloß ein Beispiel dafür, was weiteren Ländern in der neuen beängstigenden neuen Inflationswelt noch bevorsteht?«
Die Phase der »Fiscal Dominance« ist vorüber, zurück ist die »Financial Dominance« und damit die Macht der Finanzmärkte, Regierungen über Zinsanstiege und Währungsabstürze eine marktkonforme Politik aufzuzwingen. »Die Märkte machen die Ansagen«, erklärt Geoffrey Yu, Währungsstratege bei der Bank of New York Mellon. In Großbritannien führt dies dazu, dass nicht nur die Steuersenkungen für Reiche gestrichen sind, sondern auch große Teile der Unterstützung für die Armen, die mit einer Inflationsrate von zuletzt 9,9 Prozent konfrontiert sind und mit Lebensmittelpreisen, die so stark steigen wie seit 40 Jahren nicht mehr.
Deutschland im Vorteil
Der Vorwurf an Truss und ihren Ex-Finanzminister Kwarteng, sie hätten Großbritannien »uninvestable« (Economist) gemacht, zeigt, worin die angestrebte Finanzstabilität von Staaten besteht: dass sie profitable Anlagesphären für das globale Kapital sind. Zu diesem Zweck müssen nun die Zinsen steigen und die Schulden sinken, ebenso wie die Reallöhne. Die Warnungen vor inflationstreibenden »Lohn-Preis-Spiralen« zeigen, dass den abhängig Beschäftigten Opfer zu Gunsten der Geldwertstabilität abverlangt werden. Denn »der Rücktritt von Truss allein beseitigt noch nicht die Gefahren durch Energiekrise und Hyperinflation«, mahnt Alessandro Barison, Investmentmanager beim HI Numen Credit Fund auf Bloomberg. Gespannt warten Märkte und Politik auf die Ratingagenturen Moody‹s und Standard & Poor‹s, die die Kreditwürdigkeit Großbritanniens nach Truss› Rücktritt neu bewerten wollen.
Während viele Länder um ihre Kreditwürdigkeit bangen, steht Deutschland gut da. Am Freitag beschloss der Bundestag einen weiteren 200 Milliarden Euro großen Abwehrschirm für die Krise, die 100 Milliarden für die Bundeswehr stehen ohnehin im Plan. »Wir sind wirtschaftlich stark und wir mobilisieren diese Stärke, wenn es nötig ist«, erklärte Bundesfinanzminister Christian Lindner, der sich darauf verlassen kann, dass die Märkte der Bundesregierung den Kredit geben, den sie für nötig hält. »Während die meisten Länder sich nach Jahren des Schuldenaufbaus überlegen müssen, was sie sich leisten können, hat die Bundesregierung mitgeteilt, dass solche Schranken für Deutschland nicht gelten«, so der Economist. Mit den zusätzlichen Milliarden werden Haushalte und damit der Konsum gestützt, und Unternehmen über die Krise gerettet, kurz: die eigene Krise abgefedert und die Krisenfolgen auf andere Länder abgewälzt. »Man muss nur lange genug warten«, schreibt der Economist, »und Europas einzige erfolgreiche Unternehmen finden sich in jenen Ländern, deren Regierung es sich leisten können, sie zu unterstützen.«
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