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Geschichte schreiben nach Auschwitz
Der ukrainische Autor Serhij Zhadan wurde mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrt
Serhij Zhadan zählt wohl zu den bekanntesten Gegenwartsautoren ukrainischer Sprache. Der Krieg lässt unseren Blick stärker und anders auf dieses große Land, gar nicht so weit weg von uns, fallen. Nicht wenige mutmaßten, ihm könnte der diesjährige Literaturnobelpreis zufallen. Es kam nicht so. Ein anderer Preis ging hingegen an den Charkiwer Schriftsteller und Musiker: der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Gleichwohl es in der Jurybegründung heißt, diese Ehre werde ihm „für sein herausragendes künstlerisches Werk sowie für seine humanitäre Haltung» zuteil, wird dieser Preis, seit 1950 symbolträchtig in der Frankfurter Paulskirche alljährlich verliehen, nicht zu Unrecht vor allem als politische Auszeichnung wahrgenommen.
Um Zhadans literarisches Werk, auch wenn es seinen Teil zur Wahrnehmung des postsowjetischen Raums als exotische Welt beigetragen hat, soll es daher im Folgenden nicht gehen. Auch nicht um die Vorgeschichte des Autors, der die ausbleibende Kriegsbeteiligung der Nato öffentlich bedauert hat, der Waffen für sein Land wünscht, der in Puschkin und Dostojewski sowie in der gesamten russischen Kultur Vorboten der Putin’schen Despotie sieht. Der prestigeträchtige Preis wurde am Sonntag, dem letzten Tag der diesjährigen Frankfurter Buchmesse, verliehen. Ina Hartwig, die Kulturdezernentin der Metropole am Main, erlaubte sich einige freundliche Worte zur Begrüßung und zitierte ausgerechnet Nelly Sachs: „Immer / dort wo Kinder sterben / werden die leisesten Dinge heimatlos.» Wie deplatziert diese Verse der Friedenspreisträgerin des Deutschen Buchhandels 1965 waren, die vor den Nazi-Schergen fliehen musste, wird sich erst in der Gesamtbetrachtung der Festveranstaltung zeigen.
Karin Schmidt-Friderichs, Vorsteherin des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, trat anschließend hinter das Rednerpult. Mehrfach musste sie mit den Tränen kämpfen. Sie beschrieb Zhadan als einen Chronisten des Krieges und ließ sich zu der Aussage hinreißen: „Er sieht, wie Bücher verbrannt werden.» In der Tat, wo Bomben fallen, da werden nicht nur Häuser zerstört, da verbrennt auch Papier. Wem nicht das letzte bisschen Geschichtsbewusstsein abhandengekommen ist, der weiß aber um die grausige Assoziation, die die Rede von verbrannten Büchern bei den Menschen vom Rhein bis an die Memel heraufbeschwören. Die deutsche Schuld sollte über Jahrzehnte Grund genug sein für militärische Zurückhaltung. Seit Joschka Fischer das deutsche Außenministerium bekleidet hat, wissen wir, dass das Diktum „Nie wieder Auschwitz» auch zur Kriegslosung pervertiert werden kann.
Sasha Marianna Salzmann – die schon eine Woche nach Kriegsausbruch in einem Interview klarstellt: „Es gibt ganz konkrete Dinge zu tun: Waffenlieferungen» – hielt die Laudatio auf ihren Schriftstellerkollegen. Kenntnisreich und überschwänglich äußerte sie sich zum literarischen Werk des Preisträgers, um bald zu der Frage zu kommen: „Wie also Frieden erreichen, wenn auf einen eingedroschen wird?» Der an diesem Tag Geehrte weiß eine Antwort: Nicht die Beendigung, sondern nur die Fortsetzung des Krieges kann Frieden bringen.
Wie es die Tradition will, nahm Serhij Zhadan den Preis entgegen und hielt selbst eine Rede. Sie begann mit einer literarischen Miniatur, einer Beschreibung vom Geschehen an der Front. Ein Mann bemühe sich um einen Kühlschrank, was auf Ratlosigkeit stößt. Das Missverständnis, das das Unfassbare überdeckt, muss erst aufgeklärt werden: Er brauche einen Kühlwagen, zum Transport der unzähligen Leichen. Wer kann von solchen Schilderungen ernsthaft unberührt bleiben?
So sehr die vorgelesenen Zeilen die Zuhörerschaft betroffen machen, so sehr sind sie rhetorische Finte. Nichts, was darauf folgt, ergibt sich so zwingend daraus, wie es hier souverän zu Wort gebracht wird, ehe die Beifallsstürme kommen. Das hätte der Auftakt sein können, um ein sofortiges Kriegsende einzufordern. Um die Notwendigkeit von Verhandlungen klarzumachen. Um ein Loblied auf die Helden unserer Tage, auf die Deserteure, zu singen. Die Verleihung eines so bezeichneten Friedenspreises gibt dazu nicht nur den Raum, sie legt es sogar nahe.
Zhadan hat sich anders entschieden. Misstrauisch mache das westliche Gerede von der „Notwendigkeit des Friedens», das vor allem von Intellektuellen ausgehe. Er ist sich sicher, dass „Frieden nicht eintritt, wenn das Opfer der Aggression die Waffen niederlegt». Es ist niemand da, um darauf hinzuweisen, dass das gegenseitige Töten den Frieden in der Ukraine auch nicht herbeigebracht hat. Die Fortsetzung dieses waghalsigen Versuchs bedeutet schlicht auch die Fortsetzung des Massensterbens. Wer so spricht, der ist für Zhadan jemand, der in seiner „Komfortzone» verbleiben wolle und die „Grenzen der Ethik» überschreite.
»Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frisst auch die Erkenntnis an, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben«, notierte Theodor W. Adorno 1949. „Natürlich ist Dichtung nach Butscha und Isjum weiterhin möglich», räumte Zhadan in seiner Preisrede ein. Taktil geht der Dichter vor, der Mann der Worte weiß, was er tut. Durch die Betonung der vermeintlichen Differenz stellt er erst seinen Vergleich an: Butscha ist ihm das Auschwitz dieser Tage.
Es sind den Worten kaum Grenzen gesetzt, auch nicht denen aus einer verständlichen Verzweiflung erwachsenen. Und sicher – man muss den Putin’schen Krieg anklagen, seine Beendigung einfordern, jedes einzelne Verbrechen verurteilen, jeden im Kampf begangenen Mord als solchen benennen. Aber die grausamen Massaker in den ukrainischen Ortschaften, die wohl Hunderte Todesopfer gefordert haben, sind nicht wie die Taten in den deutschen Todeslagern. Wir alle wissen, dass ein Krieg nicht ohne zivile Opfer auskommt. Das ist nur ein Kennzeichen seiner spezifischen Barbarei. Aber der industrielle Massenmord durch die deutschen Faschisten beschreibt ein anderes Ausmaß. Er nahm dem zufälligen Sterben im Krieg jene Zufälligkeit, er ließ es planmäßig werden. Die Chiffre Auschwitz steht für einen ungekannten Vernichtungsapparat.
Zhadan ruft das Auschwitz-Gleichnis auf, denn er weiß, was er will: kämpfen, weil er, wie er sagt, den ungerechten Frieden fürchtet. Er möchte nicht über Politik sprechen, er appelliert an die Gefühlswelt seines Publikums. Wer würde Auschwitz nicht verhindern wollen, auch wenn es heute Butscha heißt? Wer würde den Wunsch nach Waffenlieferungen ausschlagen, wenn er von denen geäußert würde, die „ihr Auschwitz» rächen wollen? Wir sind im Reich der Poesie, einer Dichtung, die den Krieg einfordert.
Warum erheben sich die Anwesenden zum Applaus, darunter die Grünen-Politikerinnen Claudia Roth und Kathrin Göring-Eckhardt? Erstmals seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zeigt sich wieder eine Bevölkerungsmehrheit offen kriegseuphorisch. Man spricht wieder von „den Russen», entmenschlichtem Soldatenmaterial im Osten. Die Deutschen sind wieder für den Krieg, aber dieses Mal mit der Gewissheit, auf der moralisch richtigen Seite zu stehen.
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