Eine Frau im lila Pullover als Staatsfeind

Konfliktforscherin kritisiert die Kampagne gegen Kurden und Migranten durch die türkische Regierung

  • Svenja Huck
  • Lesedauer: 5 Min.

Nur wenige Stunden nach dem Anschlag auf der zentralen Einkaufsstraße in Istanbul, der İstiklal Caddesi, am Sonntagnachmittag stand für die türkische Regierung die Schuldige bereits fest: Eine Frau aus Syrien, beauftragt von der verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei PKK beziehungsweise der Partei der Demokratischen Union PYD aus Nord-Syrien sei die Attentäterin gewesen. Ein Video ihrer Festnahme in ihrer Wohnung machte schnell die Runde in den sozialen Medien, der türkische Staat wollte zeigen, dass er hart und schnell durchgreift. Das Foto, das kurz darauf von der Polizei veröffentlicht wurde, zeigt eine verängstigte Frau in Hausschuhen und mit Folterspuren im Gesicht, platziert zwischen zwei türkischen Fahnen. Sie trägt einen lila Pullover mit der Aufschrift »New York«.

»Wie der Anschlag im Anschluss von der türkischen Regierung inszeniert wurde, nachdem so viele Menschen auf brutalste Weise gestorben sind, das wirft ganz viele Fragen auf«, sagt Rosa Burç. Sie ist derzeit Gastwissenschaftlerin am Zentrum für interdisziplinäre Friedens- und Konfliktforschung der FU Berlin und promoviert zu politischen Vorstellungswelten von Staatenlosen, insbesondere Kurd*innen, am Center on Social Movement Studies in Florenz. »Unmittelbar nach dem Anschlag wurde eine Nachrichtensperre verhängt und das Internet wurde gedrosselt, sodass Menschen kaum noch Informationen erhalten oder miteinander sprechen konnten – ein Bruch fundamentaler Rechte«, sagt Burç zu »nd«. »Die einzige und erste Information, die jedoch von Innenminister Soylu veröffentlicht wurde, war – neben der Zahl der Toten und Verletzten – die Tatsache, dass es sich um eine Frau handele.«

Dass hinter dem Anschlag wirklich die PKK oder die PYD stünden, bezweifelt Burç. »Als jemand, der sich mit der Geschichte der PKK auskennt, habe ich sofort gedacht, das war sie nicht.« In der Vergangenheit habe die PKK immer versucht, militärische Ziele anzugreifen und nicht die zivile Bevölkerung in Mitleidenschaft zu ziehen. Auch das internationale Narrativ, das die PKK gerade zu etablieren versuche, laufe konträr zu diesem Anschlag. »Man versucht, internationale Partner zu finden, indem man Konferenzen organisiert und betont, dass die heutige PKK nicht mehr die alte PKK ist. Sie ist zu diesem Zeitpunkt eine wichtige soziale Kraft geworden, im Nahen Osten und auch in der Diaspora«, sagt Burç. Hinzu kommt, dass sowohl die Führung der PKK als auch die PYD in Nordsyrien/Rojava bereits öffentlich erklärt haben, in keinerlei Verbindung mit dem Anschlag zu stehen.

Für Burç ist es jedoch das Zusammenspiel der Details des Anschlags, das misstrauisch werden lässt. »Wir wissen nicht genau, was passiert ist, aber wir können sehen, dass der Frauenhass und der Rassismus gegen Kurd*innen und gegen Migrant*innen von der Regierung orchestriert werden, um einen Staatsfeind zu kreieren in der Person dieser Frau.« Ihr Aussehen entspräche nicht dem einer PKK-Militantin, wie es in unserer Vorstellung verankert sei, das sie als schwarze Person gelesen werden kann. In der Tat war eine der ersten Twitter-Reaktionen auf den Anschlag in der Türkei die Beschuldigung von Migrant*innen und die Forderung, vermeintlich unkontrollierte Migration zu stoppen.

In höchstem Maße kontrolliert und überwacht ist der Ort des Anschlags, die İstiklal-Straße, erklärt Burç: »Wer sich einmal dort bewegt hat, der weiß, dass mindestens die Hälfte der Menschen dort Zivilpolizisten sind. Denn es ist die Straße, auf der viele NGOs angesiedelt sind und wo viele Proteste stattfinden.« Die nächste Demonstration, für die bereits dorthin mobilisiert wird, ist der Internationale Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen am 25. November. Im letzten Jahr durchbrachen die organisierten Frauen dabei die Polizeigitter und nahmen sich das Recht, auf der İstiklal zu protestieren. Auch sie werden von staatlicher Seite wie Terrororganisationen behandelt, auch sie tragen häufig lilafarbene Pullover.

»Als ich das Bild der Frau gesehen habe, die als vermeintliche Täterin präsentiert wird, musste ich an ein Fernsehinterview denken, das Innenminister Soylu 2019 gegeben hat«, erinnert sich Burç. »Dabei sagte er, wir kämpfen nicht gegen eine normale Terrororganisation, sondern gegen eine Frauenterrororganisation.« Gemeint ist der Einsatz der türkischen Armee in Nord-Syrien, um die politische und militärische Verankerung der kurdischen Kräfte dort zurückzudrängen. Bekannterweise kämpfen dort auch Frauen in den Frauenverteidigungseinheiten YPJ, die maßgeblich für die Bekämpfung des sogenannten Islamischen Staates (IS) verantwortlich waren. Dabei wurden sie von den USA unterstützt, denen der türkische Innenminister nun ebenfalls eine Mitschuld am Anschlag zuweist. Die USA hätten relevante Informationen an ihre Verbündeten weitergegeben und damit das Attentat ermöglicht.

»Der Anschlag wird große Auswirkungen auf die kurdische Zivilgesellschaft und ihre politischen Organisationen haben«, warnt Burç. Ebenso rechnet sie mit noch stärkerem Druck auf Geflüchtete und organisierte linke Frauen. »Jetzt braucht es eine prinzipientreue Linke, die hinter ihrem Bündnis mit der HDP steht.« Denn genau diesen Bruch in der Opposition versuche die AKP-Regierung mit ihrer Teile-und-herrsche-Politik herbeizuführen.

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