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- Benedikt XVI.
Nicht von dieser Welt
Konzilsreformer, Glaubenshüter, Papa emeritus
Der Herr ruft mich, den Berg hinaufzusteigen», verkündete Benedikt XVI., als er am 28. Februar 2013 vom Papstamt zurücktrat. Fünf Jahre nach seiner Demission sagte er der Mailänder Tageszeitung «Corriere della Sera»: «Während die physischen Kräfte langsam dahinschwinden, bin ich innerlich auf der Pilgerreise nach Hause.» Nun, nach weiteren fast fünf Jahren, hat sich dieser Aufstieg, diese Reise, vollendet. Der erste deutsche Papst seit 500 Jahren, der erste «Papa emeritus» der Neuzeit, der am 16. April 1927 im oberbayerischen Marktl geborene Joseph Aloisius Ratzinger starb am Silvestermorgen im Alter von 95 Jahren in der Vatikanstadt.
Dass Benedikt die Berg-Metapher ausgerechnet in dem Moment gebrauchte, da er nach profanen Maßstäben eigentlich längst ganz oben angekommen war und es nun wohl nur noch abwärts gehen konnte, deutet auf eine Weltsicht im Sinne von Friedrich Nietzsches «amor fati». Allerdings war für Joseph Ratzinger, der Nietzsche durchaus schätzte, diese «Liebe zum Schicksal» ausgefüllt vom Glauben an die Liebe Gottes, einem Glauben, dessen Erfüllung er schließlich in der «Pilgerreise nach Hause» sah. Als Verkünder und Verteidiger dieses Glaubens hatte er es auf seinem «Weg nach oben» vom Dorf am Rande der Alpen an die Spitze der ältesten und größten Institution der Welt gebracht, der katholischen Kirche mit 1,3 Milliarden Gläubigen. Dieses Selbstverständnis, dessen Glaubenseifer ihn für viele – ob gläubig oder nicht – zum «Eiferer» machte, ist unverzichtbar zum Verstehen des Gelehrten im geistlichen Ornat, seines Umgangs mit Andersdenkenden und -glaubenden, seines Regimes als Glaubenspräfekt, seines oft Empörungswogen auslösenden Agierens und Äußerns; aber auch seiner intellektuell glanzvollen Verkündigungen und theologischen Schriften (so die Jesus-Biografie), seiner Kassandra-Warnungen vor Verwässerung des Glaubens, seiner dramatischen Darstellungen einer «Diktatur des Relativismus». Joseph Ratzinger setzte Zeichen. Gewollte und ungewollte. In die Zukunft und in die Vergangenheit. Kompromisse waren das selten.
Vergessen wird oft, dass die Karriere des später als «Panzerkardinal» und «Großinquisitor» Geschmähten als radikaler Erneuerer eine Zäsur erfuhr: Während des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962–1965) machte der damalige Dogmatikprofessor Furore als Kritiker der philosophisch-theologischen Unbeweglichkeit der Romkirche. Als von Papst Paul VI. zum Konzilstheologen ernannter Prälat flossen Ratzingers reformerische Ideen in Texte der historischen Kirchenversammlung ein. Dieses Denken fand bleibenden Ausdruck mit dem 1967 erschienenen und bis heute populären theologischen Longseller «Einführung in das Christentum». Die dort dargelegte Bibelexegese, die auch dem Zweifel Raum gibt, verbindet die Sicht des Glaubens mit der historisch-kritischen Interpretation – ein seinerzeit couragierter Ansatz, der Ratzingers Ruf als brillanter Theologe maßgeblich begründete.
Dieser Ruf, den er in den Jahren als Erzbischof von München und Freising (1977–1982) ausbaute, veranlasste den 1978 zum Papst gewählten Polen Karol Wojtyła, den deutschen Startheologen 1982 als Kurienkardinal nach Rom zu holen und mit dem Amt des Präfekten der Kongregation für die Glaubenslehre zu betrauen. Die Nachfolgebehörde der Heiligen Inquisition war maßgeschneidert für den damals 55-Jährigen. Hier hatte er den Einfluss und die Macht, an zentraler Stelle dafür zu wirken, was ihm das für sein Leben und Denken Wesentliche war und bis zum Ende blieb: den katholischen Glauben zu verkünden, zu schützen und zu stärken.
Ein klassischer Seelsorger war Joseph Ratzinger sicher nicht. Der zurückhaltende, menschenscheue und angesichts von Massenversammlungen stets etwas verloren wirkende Kleriker fühlte sich am wohlsten beim Studium von Büchern und Dokumenten, beim Kreisenlassen der Gedanken und Eingebungen und deren Materialisierung per Bleistift in seiner winzigen, exakt ausgerichteten Handschrift. Kardinal Ratzinger wurde der engste und wichtigste Mit- und Zuarbeiter von Johannes Paul II., der sicher sein konnte, dass das Kirchenschiff während der zahlreichen Abwesenheiten des «Reisepapstes» klaren Kurs hielt in der engen Fahrrinne von Einheit und Reinheit der katholischen Lehre.
Meinungen, das Büro der Glaubenskongregation mit seinem bisweilen päpstlicher als der Papst erscheinenden Chef sei zum eigentlichen Machtzentrum der Una Sancta geworden, sind gewiss übertrieben. Aber sie illustrieren, wie nachdrücklich der neue Mann hinter den Leoninischen Mauern mit seinem stillen Wirken das Entscheidungsgefüge der Weltkirche veränderte. Vor allem zum Schlechten, glaubt man seinen Kritikern. Ratzinger war federführend beim päpstlichen Lehrschreiben «Dominus Iesus», das den protestantischen Konfessionen den Kirchenstatus verwehrte. Er maßregelte prominente Vertreter der Befreiungstheologie, denen er politische Instrumentalisierung des Evangeliums vorwarf. Unter seiner Ägide wurde in der Neufassung des Katechismus der Katholischen Kirche weiterhin eine rigide Sexualmoral verfügt. Sein durchaus bemerkenswertes Handeln im ökumenischen Geist war davon in der öffentlichen Wahrnehmung verschattet – so sein wesentliches Wirken für die «Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre» von Lutherischem Weltbund und Römisch-katholischer Kirche oder seine Teilnahme am interreligiösen Weltgebetstreffen in Assisi, das er ein «wichtiges Zeichen für den Frieden» nannte.
2005 starb Johannes Paul II. Der Mann, dessen aus Altersgründen (75) eingereichtes Rücktrittsgesuch der Papst drei Jahre zuvor abgelehnt hatte, war auf den Listen mit den «papabili», den chancenreichen Nachfolgekandidaten, meist auf den hinteren Plätzen zu finden. Als Joseph Ratzinger dennoch am 19. April 2005 zum neuen Pontifex gewählt wurde, reichte das Medienecho vom triumphalistisch-ironischen «WIR SIND PAPST!» («Bild») bis zum sarkastisch-fassungslosen «Oh, mein Gott» («Taz»). Wahrscheinlich begann schon damals jene Passion, die knapp acht Jahre später zur Abdankung führte und von Benedikt/Ratzinger in die Metapher vom Bergaufstieg gekleidet wurde.
Die tatsächlichen und vermeintlichen Eklats begleiteten alttestamentarischen Flüchen gleich das Pontifikat Benedikts: die missverstandene Rede in Regensburg, die zu Aufruhr in der islamischen Welt führte; die Aufhebung der Exkommunikation von vier Bischöfen der traditionalistischen Piusbruderschaft, darunter der Holocaustleugner Richard Williamson; die Wiederzulassung der tridentinischen Messe mit der sogenannten Karfreitagsfürbitte für die Juden … Zugleich wurde dem Deutschen auf dem Stuhl Petri von jüdischer Seite bescheinigt, wesentlich für die Beziehungen zwischen Juden und Katholiken zu wirken. Zum Ende seiner Amtszeit hieß es, diese seien nie besser gewesen.
Die schärfste Kritik jedoch hatte Benedikt XVI. durch seinen Umgang mit dem Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche auf sich gezogen. Die Vorwürfe, Anschuldigungen und Anklagen gegen Priester und Kirchenfunktionäre, ihnen schutzbefohlene Kinder und Jugendliche sexuell missbraucht zu haben, überrollten die Romkirche während Benedikts Amtszeit mit voller Wucht. Die Maßnahmen und Maßregeln, die der Papst mit aller ihm eigenen Energie ergriff, wurden von vielen Betroffenen als halbherzig und wirkungsarm beurteilt. Als zu spät sowieso. Auch der Umgang mit den Opfern, die Für- und Abbitte, um die sich Ratzinger nach Kräften bemühte, konnten angesichts der Ausmaße von Schuld und Versagen nicht überzeugen. Noch den emeritierten Papst holte die Vergangenheit diesbezüglich ein, als er 2022 der Mitverantwortung an Missbrauchsfällen während seiner Zeit als Erzbischof von München und Freising beschuldigt wurde.
Als Benedikt XVI. im Herbst 2011 Deutschland besuchte, hielt er zum Abschluss in Freiburg eine Rede, die man als sein Vermächtnis sehen kann. Darin entwirft er in prophetischer Manier die künftige Rolle seiner Kirche. Der Schlüsselsatz lautet: «Um ihre Sendung zu verwirklichen, wird sie immer wieder auf Distanz zu ihrer Umgebung gehen, sie hat sich gewissermaßen zu ›entweltlichen‹.» Ein Satz, der den geistlichen Glutkern des Mannes aus Marktl am Inn offenbart. Legte doch Joseph Ratzingers Werden und Wirken wider jeglichen Zeitgeist oft den Schluss nahe, dass sein «Reich», wie es im Johannes-Evangelium heißt, «nicht von dieser Welt» ist.
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