Drama »Victim«: Die erfundenen Täter

Das Drama »Victim« des slowakischen Regisseurs Michal Blaško behandelt brisante politische Themen wie Fake News, Antiziganismus und die neue Rechte

  • Norma Schneider
  • Lesedauer: 4 Min.
Als eine Moderatorin Irina (Vita Smachelyuk, rechts) fragt, ob sie keine Probleme mit den Roma hätte, wird klar, dass Irina und das Schicksal ihres Sohnes für politische Stimmungsmache instrumentalisiert werden.
Als eine Moderatorin Irina (Vita Smachelyuk, rechts) fragt, ob sie keine Probleme mit den Roma hätte, wird klar, dass Irina und das Schicksal ihres Sohnes für politische Stimmungsmache instrumentalisiert werden.

Fakten verdrehen, Empörung schüren, Schuldige benennen und sich selbst als diejenigen inszenieren, die für Ordnung und Sicherheit sorgen – mit solchen Taktiken versuchen Rechtsradikale, neue Anhänger zu mobilisieren. Der Film »Victim« des slowakischen Regisseurs Michal Blaško zeigt, wie schnell das eigene Leben durch gezielte Manipulation zum Gegenstand solcher rechtsradikaler Propaganda werden kann. »Victim« erzählt die Geschichte von Irina (Vita Smachelyuk), einer alleinerziehenden Mutter aus der Ukraine, die sich in Tschechien ein neues Leben aufbauen will.

Irina ist gerade in der Ukraine, um die letzten Unterlagen zu besorgen, die sie braucht, um die tschechische Staatsbürgerschaft zu beantragen. Da erreicht sie die Nachricht, dass ihr 13-jähriger Sohn Igor (Gleb Kuchuk) schwer verletzt im Krankenhaus liegt. Kaum ist sie wieder in Tschechien und am Krankenbett ihres Sohnes, bestürmt die Polizei sie mit Fragen: Wer ihn angegriffen habe, wie viele es waren. Drei seien es gewesen, bringt der Junge schließlich heraus. Schnell wird ein Nachbarsjunge verhaftet, und das Gerücht macht die Runde, drei junge Roma hätten Igor zusammengeschlagen. Was sich tatsächlich im Treppenhaus des Wohnblocks zugetragen hat, bleibt lange unklar – und für viele scheint es auch keine Rolle zu spielen, sie haben ihre Schuldigen bereits gefunden.

Während Irina alles versucht, weiter ihren Alltag zwischen Arbeit, Sprachtest für die Staatsbürgerschaft, Wasserschaden in der Wohnung und Planungen für ihren eigenen Friseursalon zu meistern, setzt sich in Igors Umfeld eine Dynamik in Gang, die langsam außer Kontrolle gerät. Zwei Männer kommen ins Krankenhaus, die ihr Mitgefühl für Igor aussprechen, weil er seine Träume von einer Karriere als Turner wegen der schweren Verletzungen aufgeben muss. Die Männer wollen einen Marsch für Igor organisieren, um auf den Fall aufmerksam zu machen – und dafür zu sorgen, dass die Schuldigen gefunden und bestraft werden. Dankbar für die Unterstützung stimmt Irina zu.

Auch ein Fernsehinterview organisieren die beiden Männer. Spätestens als die Moderatorin Irina danach fragt, ob sie denn keine Probleme mit den Roma hätte, wird klar, dass Irina und das Schicksal ihres Sohnes für politische Stimmungsmache instrumentalisiert werden. Auch die Bürgermeisterin der Kleinstadt (Gabriela Míčová) weiß Igors Fall für sich zu nutzen. Sie zeigt sich als großzügige Kümmerin, überreicht Irina einen Scheck und besorgt ihr und ihrem Sohn sogar eine neue Wohnung – weit weg von den Roma-Nachbarn. Das alles lässt die Politikerin natürlich von einem Fotografen festhalten.

»Victim« zeigt eine erschreckende Selbstverständlichkeit von Rassismus und Antiziganismus in der sogenannten Mitte der Gesellschaft. Irina selbst erlebt mehr als einmal rassistische Diskriminierung, und fast alle Charaktere, denen Irina begegnet, äußern sich abfällig über die Roma – von der Polizei über die Bürgermeisterin bis hin zu Irinas Freundin (Inna Zhulina), mit der sie ihren Friseursalon eröffnen will. Als die beiden Freundinnen an einem Abend zusammensitzen, Schnaps trinken und über Männer scherzen, äußert Irina schließlich ihre Sorge um den Nachbarsjungen, der verhaftet wurde, obwohl Igor sagt, dass er nicht schuldig ist. Die Freundin winkt ab: »Der wäre sowieso irgendwann in den Knast gekommen. Mach dir keine Sorgen.« Irina entgegnet nichts darauf, aber in ihrem Gesicht lässt sich deutlich ablesen, dass ihr solche Ressentiments fern liegen.

Doch Irina steckt bereits tief im Strudel der politischen Manipulation. Sie muss sich entscheiden, ob sie sich weiter von den Organisatoren der rechten Demonstration oder der Bürgermeisterin unterstützen beziehungsweise instrumentalisieren lässt – oder ob sie es sich leisten kann, es nicht zu tun. Denn für sie selbst steht viel auf dem Spiel, noch hat sie ihre Staatsbürgerschaft nicht, und ihr Antrag ist schon einmal abgelehnt worden.

Regisseur Blaško erzählt Irinas Geschichte in realistischen, unaufgeregten Alltagsbildern. Obwohl der Film brisante politische Themen wie Fake News, Antiziganismus und die neue Rechte behandelt, bleibt sein Fokus immer auf seiner Hauptfigur. »Victim« ist vollständig aus Irinas Perspektive erzählt und zeigt sie als starke und empathische Person, die sowohl weiß, wie sie ihre eigenen Interessen durchsetzen kann, als auch bereit ist, Risiken einzugehen, um andere zu unterstützen. Die weiteren Figuren des Films bleiben im Hintergrund, jenseits von ihren Auftritten in Irinas Leben erfährt man nichts über sie. Doch das ist keine Schwäche des Films. Gerade indem er keinen Einblick in die Pläne und Hintergründe der Figuren gibt, ermöglicht er es, dass man bei »Victim« genau wie Irina nicht weiß, wie einem geschieht, und vom Strudel der Ereignisse mitgerissen wird. Denn das ist es, was gezielte politische Manipulation mitunter so wirkmächtig macht: Man erkennt sie manchmal erst als das, was sie ist, wenn man ihr bereits zum Opfer gefallen ist.

»Victim«: Slowakei, Tschechische Republik, Deutschland 2022. Regie: Michal Blaško. Mit: Vita Smachelyuk, Gleb Kuchuk, Igor Chmela, Viktor Zavadil, Inna Zhulina, Alena Mihulová. 91 Min. Start 6. April.

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