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Menschenrechtler Oleg Orlow für Meinung angeklagt
Der russische Aktivist soll wegen Anti-Kriegshaltung ins Gefängnis
In einem Facebook-Post und auf dem Portal der französischen »Mediapart« hatte Oleg Orlow im November 2022 von einem »blutigen Krieg, den das Putin-Regime in der Ukraine losgetreten hat« geschrieben. Zuvor war er für öffentlichen Anti-Kriegsprotest fünfmal mit Geldstrafen belegt worden. So hatte er am 20. März 2022 in der Moskauer Innenstadt am Bolschoi Theater ein Plakat mit der Aufschrift: »Der verrückte Putin treibt die Welt in den Atomkrieg« hochgehalten. Im April 2022 zeigte er auf dem Roten Platz ein Schild mit der Aufschrift »Unser Widerwillen, die Wahrheit zu erfahren und unser Schweigen machen uns zu Helfershelfern von Verbrechen«.
»Weit über hundert Menschen sind gekommen, um dem Prozess beizuwohnen«, berichtet Jan Ratschinskij, Vorsitzender der im Dezember 2021 von einem Moskauer Gericht verbotenen Menschenrechtsorganisation Memorial »nd« am Telefon. »Und noch nie habe ich bei einer Gerichtsverhandlung so strenge Kontrollen am Eingang gesehen wie dieses Mal«, so Ratschinskij. Jede Tasche sei genauestens durchsucht worden. Nach Angaben des Telegram-Kanals von Memorial haben nur akkreditierte Journalist*innen den Gerichtssaal betreten dürfen. Alle anderen Besucher*innen hätten im Flur stehen müssen.
Beim Verlesen der Anklage sprach die Staatsanwältin auch von »verwerflichen und verbrecherischen Überlegungen, den Einsatz der Streitkräfte der Russischen Föderation zu behindern«, die Orlow im November in den Sinn gekommen seien. Nachdem die Staatsanwältin die Anklage vorgelesen hatte, antwortete Orlow ihr auf die Frage, ob er diese verstanden hatte, mit einem kurzen »Nein«. Er verstehe die Anklage nicht, wisse nicht, warum man ihn nur für seine Meinung anklage. Meinungsfreiheit sei doch in der russischen Verfassung garantiert, so Orlow.
Orlow weiß, was Krieg bedeutet, hat ihn mit eigenen Augen gesehen.Wie ein roter Faden zieht sich Menschenrechtsarbeit in bewaffneten Auseinandersetzungen durch sein Leben. Als Biologie-Student hatte er zu Zeiten der sowjetischen Invasion in Afghanistan Flugblätter gegen den Krieg auf dem Universitätsgelände aufgehängt. Er hatte mehrmals den russischen Menschenrechtsbeauftragten Sergej Kowaljow auf dessen Reisen in das umkämpfte Tschetschenien begleitet, hatte dort Bombenteppiche und Artilleriebeschuss erlebt. Er hatte das Fergana-Tal von Usbekistan zum Zeitpunkt blutiger Pogrome besucht, war in Armenien, Aserbaidschan, den umkämpften Regionen Bergkarabach und Transnistrien und immer wieder in der Ukraine. Viele Jahre war er der Leiter des Memorial-Programmes »Heiße Punkte«, das Menschenrechtsverletzungen in Kampfgebieten der früheren Sowjetunion dokumentierte.
»Oleg Orlow ist angeklagt worden, weil er seine Meinung gesagt hat«, erklärt Ratschinskij, der im Dezember für Memorial den Friedensnobelpreis entgegengenommen hatte.
Die Menschenrechtskommissarin des Europarats, Dunja Mijatović, nannte den Prozess »eine Parodie einer Rechtsprechung, die die grundlegendsten Menschenrechte missachtet«. Die Anklage gegen Orlow, so zitiert die Facebook-Seite von Memorial Mijatović, sei »eine Bestrafung für seinen anhaltenden unnachgiebigen Protest gegen Russlands aggressiven Krieg in der Ukraine«.
Mit der Anklage gegen Orlow, so Peter Franck von der in Berlin ansässigen Sacharow-Gesellschaft, mache der Kreml einmal mehr deutlich, dass er all das vernichten wolle, wofür Russland unter den Vorzeichen von Glasnost und Perestroika einmal aufgebrochen war.
»Es ist tragisch, dass es jetzt mit Oleg Orlow einen Menschen trifft, der sich gemeinsam mit Andrej Sacharow und anderen mit der Gründung von Memorial auf den Weg gemacht hatte, sich in Auseinandersetzung mit der eigenen totalitären Geschichte für die Gewährleistung von Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit einzusetzen,« so Franck weiter.
Am 3. Juli wird die Verhandlung fortgesetzt. Bis dahin darf Orlow nur mit Genehmigung des Gerichts das Gebiet Moskau verlassen.
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