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Trauma und Ideologie

Die Autor*innen Franziska und Jonas Haug kritisierten »Die Möglichkeit des Glücks« als westdeutsches Narrativ. Eine Replik

Weil alle an einem Strang ziehen sollten, war Individualismus in der DDR-Erziehung keine geförderte Eigenschaft. Kindergruppe in Berlin-Mahlsdorf, 1971
Weil alle an einem Strang ziehen sollten, war Individualismus in der DDR-Erziehung keine geförderte Eigenschaft. Kindergruppe in Berlin-Mahlsdorf, 1971

In ihrem autobiografischen Debütroman »Die Möglichkeit von Glück« konstruiert Anne Rabe einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem sozialistischen Erziehungs- und Bildungssystem sowie der Erfahrung von kalter Empathielosigkeit in einer (ihrer?) von seelischer wie körperlicher Gewalt geprägten Kindheit in der DDR. Das eine – die Formung »allseitig gebildeter sozialistischer Persönlichkeiten«, wie es im DDR-Sprech hieß – bedinge zwangsläufig das andere, nämlich eine strukturelle Brutalität, die bis in die kleinste Zelle der Gesellschaft, die Familie, reiche. Für ihre literarische Aufarbeitung der eigenen Kindheit wurde Rabe dieses Jahr für den Deutschen Buchpreis nominiert. Erhalten hat sie ihn letztlich nicht, aber allein der Sprung auf die Shortlist bedeutet Anerkennung und weitreichende Aufmerksamkeit in den Feuilletons des Landes.

Dort wurde der Roman überwiegend positiv aufgenommen und besprochen. Dies sei auch kein Wunder, schrieben Franziska und Jonas Haug in »nd.DieWoche« vom 28. Oktober 2023. Rabes Abrechnung mit ihren Eltern sei gleichzeitig eine Anklage an das System, in dem die Eltern aktiv eingebunden waren und ihre Kinder getreu dessen Maximen »erzogen«. Mit dieser Diagnose füge sich das Buch opportunistisch ein in das westdeutsche Narrativ, nach dem die DDR einzig als kalte und schlechtgelaunte »Diktatur« beschrieben werde – die Anführungszeichen sind von den beiden Autor*innen gesetzt, was annehmen lässt, dass sie auch den Begriff »Diktatur« für die DDR als westdeutsche Voreingenommenheit verstehen. Überhaupt sei der Buchpreis eine rein westdeutsche Angelegenheit, weshalb meist Stoffe geadelt würden, die Stereotype über das Leben in der DDR bedienten und den Westen in seinen Vorurteilen bestätigten.

Bruch mit dem westdeutschen Narrativ

Seit einiger Zeit hat sich der Wind in der innerdeutschen Debatte gewaltig gedreht. Die Wut der Nachgeborenen bricht sich Bahn über die seit dreißig Jahren anhaltende Bevormundung des Ostens durch den Westen, die bisweilen als koloniales Gebaren empfunden wird. Eine neue, öffentlichkeitswirksame und spezifisch ostdeutsche Sicht auf Ostdeutschland und die DDR-Vergangenheit brachte nicht zuletzt Dirk Oschmanns Buch »Der Osten. Eine westdeutsche Erfindung«. Seine Streitschrift artikulierte für viele jenes Unbehagen am gesamtdeutschen Diskurs, das sich bis dato so schwer in Worte fassen ließ. Oschmann versuchte meinungsstark, die Deutungshoheit der westdeutschen Eliten zu brechen und das 1989 begonnene, 1990 mit der Übernahme der ostdeutschen Medien durch die westdeutschen Platzhirsche jedoch abrupt wieder beendete Selbstgespräch der Ostdeutschen anzumahnen. Das vorherrschende Bild vom Osten nannte er eine mediale Erfindung des Westens, aus dessen Diskurs Ostdeutsche bis heute weitgehend ausgeschlossen sind.

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Allerdings muss man sich davor hüten, nun aus Trotz gegen die Übermacht der westdeutschen Deutungshoheit in das andere Extrem zu verfallen und (sich) die DDR schönzureden oder hinter jeder kritischen Beschreibung der DDR-Realität das westdeutsche Narrativ zu wittern. Zweifellos ist es ein Fortschritt, dass das Leben in der DDR heute ambivalenter und in all seiner Widersprüchlichkeit geschildert werden kann und es ein neues Bewusstsein für die komplexen Zusammenhänge und Schattierungen gibt, die sich einfachen Urteilen entziehen. Trotzdem bleibt es grundsätzlich richtig, die DDR als eine Diktatur zu beschreiben, unter deren struktureller Gewalt Menschen gelitten haben. Das bezieht sich ausdrücklich auch auf das Erziehungssystem, dessen Ziel – die Heranbildung einer möglichst homogenen sozialistischen Menschengemeinschaft – ein erhebliches Maß an Zwang und Konformitätsdruck einschloss.

Man braucht dafür gar nicht die notorisch erwähnten Jugendwerkhöfe oder noch schlimmere Disziplinierungsanstalten als Kronzeugen heranzuziehen. In jeder Phase des üblichen Bildungsweges, von der Kinderkrippe bis zum Parteilehrjahr, war das erklärte Ziel nicht die Erziehung zu mündigen, gar kritischen Individuen, sondern die Unterordnung unter das Ideal des sozialistischen Kollektivs, hinter dem individuelle Bedürfnisse und Eigenarten zurückzustehen hatten. Was nicht passte, wurde passend gemacht. Der vermeintlich größere Zusammenhalt in der DDR war in Wirklichkeit wohl eher eine Zwangsgemeinschaft. Leidtragende des Konformitätsdrucks waren all die Unangepassten, Paradiesvögel, Querdenker, Individualisten, die am Ende aussortiert in irgendeiner Nische landeten oder als Aussteiger wider Willen in Randberufen ohne Chance auf beruflichen Aufstieg dahinlebten.

Systemimmanente Gewalterfahrung?

Für die Betroffenen war die paternalistische Erziehungsdiktatur durchaus eine Gewalterfahrung. Dabei war es nicht nur der Staat als gesichtslose Instanz, der diese Gewalt ausübte, sondern häufig die Eltern als Transmissionsriemen des Staatswillens. In der (ostdeutschen) Literatur sind diese Mechanismen durchaus beschrieben worden, man denke an Peter Wawerzineks »Rabenliebe« oder Lutz Seilers »Kruso«; Autoren, denen kaum Anbiederung an den westdeutschen Literaturbetrieb vorgeworfen werden kann. Die Frage ist, ob die oft konstatierte Kälte und Empathielosigkeit der Elterngeneration, wie sie Rabe beschreibt, eine spezifisch ostdeutsche Erscheinung und damit systemimmanent war.

Anne Rabe konstruiert diesen Zusammenhang, Franziska und Jonas Haug bestreiten ihn vehement. Dabei haben beide Seiten unrecht: die Haugs, weil sie das dem System inhärente Gewaltpotenzial nicht sehen wollen und negieren, Anne Rabe, weil ihre Analyse zu kurz greift und wesentliche Aspekte ausklammert. In ihrer Fokussierung auf die DDR als Unrechtsstaat, dessen Legitimität sie ihm abspricht, verkennt und vernachlässigt sie die eigentlichen Wurzeln der Härte und Erbarmungslosigkeit, unter der sie als Kind gelitten hat. Dabei braucht es gar kein sonderlich ausgeprägtes historisches oder psychologisches Wissen, um zu erkennen, wie langfristig und generationenübergreifend die traumatischen Verheerungen und Verwüstungen der NS-Zeit, von Krieg und Nachkriegszeit, wirkten. Und diese Beschädigungen gab es zwangsläufig sowohl im Osten wie übrigens auch im Westen, woraus resultiert, dass ähnliche Schicksale, wie Rabe sie beschreibt, dies- und jenseits der Elbe zuhauf gefunden werden können.

Jeder und jede kennt die Art Großeltern, die zeitlebens nie über ihre Erlebnisse und Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg sprachen und ihr Schweigen mit ins Grab nahmen. Vorher gaben sie allerdings ihre Traumatisierungen an die Nachkommen weiter. Es gibt genügend Studien, die den Zusammenhang zwischen den unverarbeiteten und tief im Inneren verborgenen Kriegserlebnissen, den Erfahrungen des Kontrollverlusts und des massenhaften Tötens und Sterbens ringsherum, und späterer häuslicher Gewalt Kindern (oder Ehefrauen) gegenüber belegen. Auch in der Familiengeschichte des Autors dieser Zeilen gibt es diese dunklen Flecken.

Meine Mutter wurde 1942 in Dresden geboren und hat die Zerstörung der Stadt, das Ende des Krieges und die Nachkriegszeit als Kleinkind erlebt. Ihre eigene Mutter starb bald nach Kriegsende in einem Krankenhaus an Tuberkulose, die nachfolgende zweite Ehefrau des Vaters erwies sich als die sprichwörtliche böse Stiefmutter aus dem Märchen, mit Schlägen, Einsperren, Lieblosigkeit. Man mag sich nicht vorstellen, welche psychischen Verheerungen eine solche Kindheit auf das spätere Erwachsenenleben hatte. Ihre eigene Ehe wurde früh geschieden, die Kinder steckte sie in die Wochenkrippe, wo man die lieben Kleinen Montags abgab und Freitags wieder abholte und ihnen so Woche für Woche eine neue Verlusterfahrung bescherte. Die Mutterliebe, die sie selbst nie erfahren hatte, vermochte sie auch nicht an ihre Kinder weiterzugeben. Heutzutage hätte sie wohl als schwer traumatisiert gegolten und entsprechende Therapien in Anspruch nehmen können. In dem Zeitraum, von dem die Rede ist, steckte die Psychiatrie noch in den Kinderschuhen und es galt als Patentrezept gegen Depressionen, sich »zusammenzureißen«.

Unaufgearbeitete Traumata

Einen Elternersatz und gewisse Geborgenheit fand meine Mutter in der SED, der sie früh beitrat und bis zum Ende der DDR als treue Parteisoldatin diente – wie die Eltern in Anne Rabes Roman. Die Parallelen sind offenkundig. So verbanden sich im Laufe der Jahre die im Krieg erlittenen Traumata, aus denen eine Verhärtung der Seelen resultierte, mit dem ideologischen Druck und dem strukturellen Repressionspotenzial des DDR-Erziehungssystems zu einer Melange. Daraus jedoch wie Rabe den Schluss zu ziehen, ein zu heiß gebadetes Kind wäre dem Sozialismus anzulasten, ist ganz gewiss falsch. Die seelische und körperliche Grausamkeit gegenüber den Kindern, die Rabe in ihrem Roman verarbeitet, hat ihre Wurzeln in den auch in der DDR verdrängten, nie aufgearbeiteten Traumata des Weltkriegs.

Eine vor etwa zwei Jahren veröffentlichte Studie zu Heimkindern in beiden deutschen Staaten kam zu erschreckenden Ergebnissen: Von der Nachkriegszeit bis Ende der 70er Jahre habe es trotz der Systemdifferenz ähnliche strukturelle Mängel in Ost- und Westdeutschland gegeben. Die Kinder und Jugendlichen hätten unter massiver körperlicher Gewalt, Demütigungen, Missachtung der Intimsphäre oder Fixierungen gelitten. Trotz verschiedener politischer Systeme und verschiedenen gesundheitspolitischen Voraussetzungen habe es keinen Unterschied zwischen Einrichtungen in der BRD oder der DDR gegeben. Nun ist Anne Rabe zwar erst 1986 geboren, als sich die beiden deutschen Gesellschaften konsolidiert hatten (und die eine schon wieder im Abstieg begriffen war) und Erniedrigung und Prügel nicht mehr zum Standardrepertoire der Erziehung gehörten. Aber Kriegsgewalt hat eben generationenübergreifende Folgen für Überlebende und erfahrene Traumatisierungen können sogar vererbt werden, wie die Wissenschaft heute weiß. Diesen Zusammenhang zu vernachlässigen und alle Schuld an erfahrenem Leid dem DDR-System in die Schuhe zu schieben, ist eine entscheidende Schwäche von Anne Rabes ansonsten sehr lesenswertem Buch.

Anne Rabe: Die Möglichkeit von Glück.
Klett-Cotta 2023, 384 S., Hardcover, 24 €.

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