»Die Marginalisierten«: Perspektiven von ganz unten

In seinem neuen Buch lässt der Soziologe Christopher Wimmer die Marginalisierten zu Wort kommen

Während die Sozialforschung sich zunehmend von der materialistischen Theorie und damit auch vom Klassenbegriff verabschiedet hat, nimmt die soziale und ökonomische Ungleichheit in den kapitalistischen Zentren kontinuierlich zu. Doch auch materialistische Forschungsansätze haben es immer wieder versäumt, jenen Teil der lohnabhängigen Klasse in den Blick zu nehmen, der in den großen politischen Erzählungen meist vergessen wird: Die Marginalisierten.

Diesen blinden Fleck bearbeitet nun die gleichnamige Studie des Soziologen und nd-Autoren Christopher Wimmer, die ebenso theoretisch anspruchsvoll wie zugänglich geschrieben ist. Er nimmt darin ausgehend von 27 biografischen Interviews mit Männern und Frauen und anhand rekonstruktiver Interpretationsverfahren die vielfältigen Lebensgeschichten der befragten Langzeitarbeitslosen, Alleinerziehenden und Rentner*innen, die am Existenzminimum leben, sorgfältig in den Blick.

Dabei zeichnet er ohne Beschönigung und Ressentiment nach, wie die Marginalisierung den Alltag und die sozialen Beziehungen prägt: Er geht auf die Entsagungen ein, die mit Armut im Kapitalismus einhergehen. Es geht um Rassismuserfahrungen im Kontakt mit Behörden, aber auch um die geschlechtsspezifischen Auswirkungen für alleinerziehende Mütter und Frauen in Partnerschaften. Die berichten etwa über besondere Verwundbarkeiten durch finanzielle Abhängigkeiten von ihren Partnern.

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Durch seinen methodischen Zugang lässt Wimmer die Marginalisierten selbst zu Wort kommen, die nicht bloß als passive Forschungsobjekte erscheinen. Vielmehr werden sie zu Handelnden in ihren eigenen Geschichten. Sie erzählen etwa davon, welche Fähigkeiten sie entwickelt haben, um sich in ihren von Armut geprägten Lebenslagen zu behaupten.

Die Sensibilität für den Eigensinn der Befragten ist für Wimmers Studie insgesamt bedeutsam, in der er sich auch dem Gesellschaftsbild und dem Klassenbewusstsein der Marginalisierten widmet. Er zeigt, welche biografischen Erfahrungen ihre Sicht auf die kapitalistischen Verhältnisse prägen.

Dabei macht der Soziologe deutlich, dass die Befragten durch die erlebte Entwürdigung und die alltäglichen existenziellen Nöte eine klare Sicht auf die Ungerechtigkeit haben: Es gelinge ihnen, die erfahrene »Missachtung auf den Begriff zu bekommen, ohne abstrakte Strukturen sozialer Ungleichheit adressieren zu müssen.«

Wimmer reflektiert, dass das Erleben der Marginalisierten in keinem unmittelbaren Verhältnis zum Produktionsprozess steht. Für sie ist darum auch nicht der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit alltagsrelevant, sondern die Erscheinungsform der ökonomischen Ungleichheit: der individualisierende Gegensatz zwischen Arm und Reich.

Das Gesellschaftsbild vieler Befragter ist von einer Tendenz zu Individualisierung geprägt. So wird vielfach persönliches Verhalten als Grund für Erfolg oder Misserfolg betont. Und als Ursache für die erfahrene Ungerechtigkeit wird oftmals das unmoralische Verhalten von »denen da oben« ausgemacht.

Dieser individualisierende und moralisierende Blick kann ins Ressentiment umschlagen. Das zeigt sich etwa, wenn ein Befragter seine Erfahrung der Ohnmacht in eine antisemitische Erzählung überträgt. Das verdeutliche, schreibt Wimmer, dass die Kritik nicht per se emanzipatorisch ist. Hier sei von einer regressiven Protesthaltung zu sprechen.

Jenseits dieser Tendenz zu Individualisierung und Moralisierung, lässt sich indes weder politisch noch mit Blick auf das Klassenbewusstsein der Befragten eine Einheitlichkeit erkennen. Dies sei Ausdruck davon, dass ihr Alltag nicht als Einheit erscheint und dieser daher im Bewusstsein auch nicht einheitlich bearbeitet wird.

Eindeutig ist jedoch die Klarheit, mit der die Befragten ihr Wissen darüber artikulieren, »dass sie nicht als vollwertige Gesellschaftsmitglieder akzeptiert werden.« Dies liege in den vielfach erlebten und inkorporierten Marginalisierungserfahrungen begründet, was Wimmer als negatives Klassenbewusstsein bezeichnet. Daraus ergeben sich Formen informeller Solidarität und Vorstellungen von moralischer Ökonomie, die die Marginalisierten zu Handelnden machen.

Insbesondere dieser Befund, aber auch die Studie insgesamt, unterstreicht das Potenzial einer feinfühligen materialistischen Armutsforschung auf der Höhe der Zeit, die den Blick für den Eigensinn der Marginalisierten schärft und sich gegen eine Erzählung von oben sperrt. Das Potenzial ließe sich noch ausschöpfen, wenn die Ergebnisse sozialpsychologisch weiter vertieft würden.

Unabhängig davon sei die herausragende Studie auch jenseits des Forschungsbetriebes all jenen empfohlen, die an einer pointierten Analyse der individuellen, aber nicht weniger gesellschaftlichen Folgen der kapitalistischen Armutsproduktion interessiert sind.

Christopher Wimmer: Die Marginalisierten. (Über-)Leben zwischen Mangel und Notwendigkeit. Beltz Juventa, Weinheim, 302 S., 26 €.

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