Wäre das, was am Dienstag und Mittwoch vor dem Oberverwaltungsgericht (OVG) Münster stattgefunden hat, ein normaler Prozess, dann wäre die Taktik des Beschwerdeführers äußerst ungewöhnlich. Die Alternative für Deutschland (AfD) streitet vor Gericht[1] dafür, nicht mehr vom Verfassungsschutz als »Verdachtsfall« eingestuft zu werden. Bis das Gericht entschieden hat, darf der Verfassungsschutz die Partei so einstufen. Prinzipiell sollte der Partei also daran gelegen sein, die Einstufung loszuwerden und vom Geheimdienst zum Prüffall heruntergestuft zu werden.
Die Chance für eine solche Herunterstufung scheint man bei der AfD[2] und ihren Anwälten als nicht besonders groß einzuschätzen. Anders ist die Verschleppungsstrategie nicht zu erklären, die in Münster zwei Tage lang verfolgt wurde. Etwa als am Dienstagabend erklärt wurde, dass man über 200 Anträge habe, die man verlesen wolle, und dass dies allein 25 Stunden brauche. Richter*innen können, und das OVG machte davon Gebrauch, solche Anträge zwar zurückzustellen. Im Zweifel machen sie die Entscheidung eines Verfahrens damit aber in der Revision angreifbar.
Wegen der AfD-Strategie wurde inhaltlich in Münster bisher nicht viel verhandelt. Ein zentraler Punkt kam allerdings schon zur Sprache. Der Verfassungsschutz wirft der AfD vor, einen ethnischen Volksbegriff zu haben: Deutsch ist nur, wer deutsche Eltern, Großeltern und so weiter hat. Die Partei teile Menschen in zwei Klassen ein. Deutsche und Menschen mit Migrationshintergrund. Besonders abwertend gebe sie sich gegenüber Muslim*innen. So die Bewertung des Verfassungsschutzes.
Die AfD wollte dem entgegentreten. Dafür präsentierte sie Parteimitglieder mit Migrationshintergrund. Der hessische Landesvorsitzende Robert Lambrou, dessen Vater aus Griechenland stammt, sowie eine Frau mit nigerianischem und ein Mann mit iranischem Hintergrund wurden als Zeugen aufgerufen. Sie alle schilderten, dass sie in der AfD mitarbeiten können. Wolfgang Roth, Anwalt des Verfassungsschutzes bedankte sich zwar für die Aussagen, erklärte aber auch, dies seien »nicht mehr nachvollziehbare Verharmlosungen« dessen, was der Behörde vorliegt. Man habe Tausende Seiten an Material, die belegten, dass die AfD die Menschenwürde von Migrant*innen nicht achte.
Beim Thema Volksbegriff tritt Roman Reusch[3] zum ersten Mal im Prozess wirklich in Erscheinung. Er ist im AfD-Bundesvorstand für den Prozess zuständig. Während vorher vor allem die Anwälte zu Wort kamen, spricht nun Reusch. Er verharmlost, was in der AfD Alltag ist. Erklärt, dass manche halt »Blech« redeten und dass intellektuelle Reden über das deutsche Volk für Mitglieder mit geringer Bildung sowieso nicht verständlich seien. Einen extrem rechten Flügel gebe es in der Partei nicht, manche wollten »Dampf ablassen«, und schlimmer als im Bierzelt bei den Christdemokraten sei das auch nicht.
Roman Reusch ist schon seit 2013 Mitglied der AfD. Vorher hat er in der Berliner Staatsanwaltschaft Karriere gemacht. 2007 sorgte er für Schlagzeilen, als er öffentlich über jugendliche Straftäter mit Migrationshintergrund sprach, die »in diesem Land nicht das Geringste verloren« hätten. Reusch artikulierte damals den Wunsch, sie mittels Untersuchungshaft »aus dem Verkehr« zu ziehen. In der AfD ist der Jurist unter Beschuss. Im vergangenen Sommer verließ er den Brandenburger AfD-Vorstand, weil der nicht mitziehen wollte, als Reusch ein Parteiausschlussverfahren gegen ein Bundesvorstandsmitglied der Jungen Alternative (JA) verlangte. Die Parteijugend wird vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestuft.
Für die Neurechten[4] in der AfD und ihrem Umfeld sind Selbstverharmlosung und Abgrenzung keine Option. Im Podcast des Vereins »Ein Prozent«[5] sprach man am Montag eine Stunde über den Verfassungsschutz und wie die AfD mit ihm umgehen sollte. Der Weg, den Reusch gewählt hat, wurde explizit kritisiert. Der eigene Strategievorschlag: Der Inlandsgeheimdienst soll als »Regierungsschutz« delegitimiert werden. Die Partei solle sich nicht daran stören, wie die Behörde sie einstuft.
Als Mutmacher nennen die extrem rechten Podcaster ausgerechnet einen Linken. Bodo Ramelow wurde fast drei Jahrzehnte vom Verfassungsschutz beobachtet. Gewählt wurde er trotzdem. Bei »Ein Prozent« setzt man darauf, dass dies mit Björn Höcke auch passiert.
Unabhängig von der Strategie spielt es der AfD in die Hände, dass in Münster noch keine Entscheidung gefunden wurde. Bis die Verhandlung weitergeht, können Monate vergehen. Es müssen Termine gefunden werden, die für alle Prozessbeteiligten passen. Solange das nicht der Fall ist, wird der Verfassungsschutz die AfD nicht als »gesichert rechtsextrem« hochstufen. Die Verbotsdebatte wird in dieser Zeit auch keinen Schritt vorankommen.
Außerdem bedeuten solche Termine für die AfD mediale Präsenz. Auch vermeintlich negative Berichterstattung hat der Partei in der Vergangenheit nicht geschadet. Eine Entscheidung vor dem OVG, womöglich in zeitlicher Nähe zu einer der anstehenden Wahlen, käme der Partei entgegen. Die AfD würde es auskosten, sich als Opposition, die von Regierung und Geheimdienst bekämpft wird, zu inszenieren.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1180700.ovg-muenster-afd-spielt-auf-zeit.html