Armenien und Aser­baid­schan: Schwierige Annäherung

Armenier betrachten den Friedensprozess im Südkaukasus mit Unbehagen

  • Bernhard Clasen
  • Lesedauer: 4 Min.
Mit Straßenblockaden versuchen Armenier ihre Aussiedlung aus Dörfern an der aserbaidschanischen Grenze zu verhindern.
Mit Straßenblockaden versuchen Armenier ihre Aussiedlung aus Dörfern an der aserbaidschanischen Grenze zu verhindern.

Seit Freitag reißen die Proteste und Straßenblockaden in mehreren Dörfern an der armenisch-aserbaidschanischen Grenze nicht mehr ab. Die armenischen Bewohner sind wütend. Sie sehen sich als Opfer einer Annäherung der jahrzehntelang verfeindeten Nachbarstaaten im Südkaukasus. Denn am vergangenen Freitag hatte eine gemeinsame armenisch-aserbaidschanische Kommission zur Festlegung der Grenze zwischen beiden Ländern die Dörfer Voskepara (aserbaidschanisch: Aşağı Əskipara), Baganis (Bağanis Ayrım), Kirants (Kəmərqaya) und Berkaber (Kysyl Gadschily) Aserbaidschan zugeschlagen.

Für die Bewohner der Ortschaften bedeutet dies, dass sie in wenigen Wochen ihre Häuser und Dörfer werden verlassen müssen. Bleiben könnten sie nur, wenn sie die aserbaidschanische Staatsbürgerschaft annehmen würden. »Unsere Forderung ist ganz einfach«, zitieren armenische Medien die Protestierenden. »Wir wollen in unseren Häusern bleiben.« Armenien hatte diese vier Dörfer vor 30 Jahren eingenommen. Die noch aus der Sowjetunion stammenden Karten ordnen diese Dörfer jedoch Aserbaidschan zu.

Armenien und Aserbaidschan verhandeln

»Bereits zum achten Mal tagte am 19. April 2024 an der armenisch-aserbaidschanischen Grenze unter dem Vorsitz des stellvertretenden Premierministers der Republik Armenien, Mher Grigorjan, und des stellvertretenden Premierministers der Republik Aserbaidschan, Shahin Mustafayev, die Kommission für die Abgrenzung und Sicherheit der Staatsgrenze zwischen der Republik Armenien und der Republik Aserbaidschan«, berichtet das armenische Außenministerium auf seiner Internetseite.

Tatsächlich sind die seit mehreren Monaten intensiv geführten armenisch-aserbaidschanischen Verhandlungen der Beginn einer neuen Ära für beide Länder, die sich in den vergangenen 30 Jahren mehrfach bekriegt hatten. Gemeinsam will man nun den Grenzverlauf regeln und sich dabei auf die Vereinbarung von Almaty stützen. Diese 1991 zum Ende der Sowjetunion in der damaligen kasachischen Hauptstadt getroffene Übereinkunft besagt, dass sich die Grenzen der künftigen Nachfolgerepubliken der Sowjetunion an den Grenzen der Unionsrepubliken der UdSSR orientieren.

Annäherung wird international begrüßt

Entsprechend erfährt dieser Verhandlungswille international Zustimmung. »Wir begrüßen die Ankündigung, dass sich Armenien und Aserbaidschan auf die Almaty-Erklärung von 1991 als Grundlage für die Grenzziehung zwischen den beiden Ländern geeinigt haben. Dies ist ein wichtiger Schritt zum Abschluss eines dauerhaften und würdigen Friedensabkommens«, twitterte US-Außenminister Blinken am Samstag.

»Heute gibt es ermutigende Nachrichten über die Arbeit der armenisch-aserbaidschanischen Grenzkommissionen und den Beginn eines Prozesses zur Festlegung der Grenze auf der Grundlage von Rechtsdokumenten und des Abkommens von Almaty von 1991. Die EU unterstützt uneingeschränkt den Verhandlungsprozess und das Ziel einer umfassenden und dauerhaften Lösung«, schrieb Toivo Klaar, EU-Sonderbeauftragter für die Krise in Georgien und im Südkaukasus Ende der Woche auf X. Auch Vertreter von G7, Nato, EU, der Türkei, Norwegen, Deutschland und Schweden zeigten sich sehr erfreut über die Arbeit der Grenzkommission.

Moskaus Friedenstruppen sind abgezogen

Moskau hingegen vermindert seine militärische Präsenz in der Region. Mit dem vorzeitigen Abzug seiner Friedenstruppen aus Bergkarabach in der vergangenen Woche stärkt Russland die Macht von Aserbaidschan, das nun auf keinerlei Absprachen mit russischen Militärs angewiesen ist. Spätestens ab dem 1. August werden auch keine russischen Grenztruppen mehr auf dem internationalen Flughafen von Jerewan präsent sein. Präsent ist Russland, das die wachsenden Aktivitäten westlicher Länder und Bündnisse mit Unbehagen beobachtet, in der Region gleichwohl weiterhin.

Am Montag war der aserbaidschanische Staatspräsident Ilham Alijew auf Einladung Wladimir Putins zu Gesprächen mit der russischen Führung in Moskau eingetroffen. »Russland ist das tragende Land in Hinsicht auf die regionale Sicherheit im Kaukasus und im größeren Maßstab. Von der Zusammenarbeit zwischen unseren Ländern hängt sehr viel ab«, unterstrich Alijew bei dem Treffen die Bedeutung Russlands. Zeitnah wird in Moskau auch der armenische Premier Nikol Paschinjan erwartet.

Paschinjan treibt Vereinbarung voran

Große Teile der armenischen Gesellschaft sehen die neue armenisch-aserbaidschanische Zusammenarbeit mit Unbehagen. Schließlich, so die Befürchtung, sei es Armenien, das in einem ersten Schritt freiwillig Dörfer abtrete. Denn zu der auf aserbaidschanischem Territorium liegenden Enklave Artsvashen (Baschkend), das auch auf offiziellen aserbaidschanischen Karten als zu Armenien gehörend geführt wird, gibt es bisher keine Vereinbarung der gemeinsamen Kommission.

Gleichwohl ist man beim armenischen Premier Nikol Paschinjan gewillt, in Vorleistung gegenüber Aserbaidschan zu treten. »Wenn es uns gelingt, in den in der Erklärung festgelegten Punkten korrekt und rechtzeitig voranzukommen, werden wir eine noch nie dagewesene Situation in den Beziehungen zwischen Armenien und Aserbaidschan erleben«, erklärt Araik Arutunjan vom Büro des Premierministers. »Verhandlungen sind viel besser als die Lösung eines Problems mit einem Gewaltakt«, so Arutunjan.

Am 24. April wird in Armenien wie jedes Jahr der Opfer des Völkermordes von 1915 gedacht. Kein guter Zeitpunkt für Debatten über Gebietsabtretungen.

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