70. Internationale Kurzfilmtage: Lust am Widerspruch

Die 70. Internationalen Kurzfilmtage in Oberhausen sind gestartet. Gezeigt wird auch ästhetisch wie politisch Uneindeutiges – gut so!

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.
Arbeitet mit originellen Simulationen einer Spielhalle: der Film »Merkur« von Johannes Lehnen
Arbeitet mit originellen Simulationen einer Spielhalle: der Film »Merkur« von Johannes Lehnen

Kurzfilme? Sind die Tage dieser einst innovativen Kunstform nicht längst gezählt, wo doch die Plattform Tiktok sozusagen die kürzesten aller kurzen Filme massenhaft in die Welt setzt? Kurz müssen sie schon sein, denn die Konzentration reicht für die Drei-Stunden-Epen des einstigen Weltkinos längst nicht mehr aus. So die kulturpessimistische Perspektive auf das 70. Oberhausener Kurzfilmfestival, das 1962 mit dem »Oberhausener Manifest« (unterzeichnet von bundesdeutschen Filmgrößen wie Alexander Kluge, Peter Schamoni und Edgar Reitz) den neuen deutschen Autorenfilm ins Leben rief.

»Opas (Ufa)-Kino gehört in den Müll!«: So großspurig traten die jungen Wilden damals an, die den jungen Filmemachern von heute ebenfalls längst wie Opas vorkommen müssen. Aber sind die heutigen Jungspunde immer noch so wild wie jene, die in den hochpolitisierten 60er Jahren die Filmwelt aus den Angeln heben wollten?

Mit den politischen Protestformen hat die Kunst von heute offensichtlich ihre Schwierigkeiten. Als der Oberhausener Festivalchef Lars Henrik Gass im Oktober letzten Jahres, nach dem Überfall der Hamas auf Israel, eine Solidaritätsbekundung mit Israel postete, waren die Reaktionen heftig: Mehrere Filmemacher zogen unter Protest ihre Beiträge zurück. Wie das? Kann man nicht gleichzeitig den barbarischen Terrorakt der Hamas verurteilen und sich für die Rechte des palästinensischen Volkes einsetzen? Ist das ein Zuviel an Komplexität für jene Parteigeister von heute, die wie selbstverständlich für sich reklamieren, dass sie die Guten sind, ohne Wenn und Aber?

Das ist wohl so, denn sonst würde das am 1. Mai gestartete Festival nicht eine begleitende Tagung »Sehnsucht nach Widerspruchsfreiheit« über die Spaltung des Kulturbetriebs veranstalten. Offensichtlich kann man in bestimmten kulturellen Milieus Diversität nur als Auszeichnung eigener moralischer Vorbildlichkeit feiern, steht aber sprachlos den existierenden Unterschieden, Vielschichtig- und Unvereinbarkeiten gegenüber, die anderes sind als Rollenspiele in Wochenend-Workshops: brutale Realität.

Derartige Widersprüche aber gilt es nicht nur anzuerkennen, sondern auch auf eine Weise auszutragen, dass das Gegenüber, das tatsächlich – nicht bloß scheinbar – andere Auffassungen in wesentlichen Grundfragen der Zeit hat, nicht reflexartig aus dem Diskurs verbannt wird. All die postmodernen Spielarten der Widerspruchsfreiheit, bei denen man sich damit begnügt, das »Bunte« als Ideal zu verklären, sind in den letzten beiden Jahren, da die Geschichte mit aller Gewalt in den nur scheinbar machtfreien Diskurs eingebrochen ist, komplett gescheitert.

Auch darum wird es in den kommenden Tagen bei 117 Kurzfilmen aus 36 Ländern gehen. Aber da es vor allem junge Regisseure und Regisseurinnen sind, die hier ihre ersten – oft unter schwierigen Bedingungen finanzierten – Arbeiten vorstellen, die nur jeweils 10 bis 30 Minuten dauern, fragt man sich zuerst nach dem künstlerischen Selbstverständnis dieser jungen Generation, für die Oberhausen auch eine Art Messe ist, bei der man sich möglichen Produzenten präsentiert. Das erklärt vielleicht, warum die Mehrzahl der deutschen Beiträge auf Englisch gedreht wurde – schließlich reist man mit dem eigenen Erstling im besten Falle von Festival zu Festival rund um die Welt.

Bei der Vorabsichtung des deutschen Wettbewerbs, der einer von fünf hier laufenden Wettbewerben ist, drängten sich folgende Fragen auf: Wie geht man erstens mit der immer trivialer werdenden Fernsehästhetik um, die fast nur noch um ausrechenbare »Plots« zu kreisen scheint – und vermeidet zweitens das Abgleiten in sinnfreie (oder fast schlimmer noch: gezielt eingesetzte) Clip-Ästhetik? Denn vor der Hürde stehen sie hier alle: Mit Werbeclips kann man viel Geld verdienen, mit ambitionierten Spielfilmprojekten viel Geld verlieren. Wohin also sich wenden? Da kann der Rat einer älteren Generation nicht schaden, die weiß, dass ein starkes künstlerisches Sendungsbewusstsein Pragmatismus in Sachen Geldbeschaffung noch nie ausschloss. Immerhin scheute auch Bert Brecht vor Auto-Werbung nicht zurück.

Zu Oberhausen gehört immer noch die Mischung aus Dilettantismus und höchstem Talent, Naivität und forciertem Kunstsinn. Man macht interessante Entdeckungen. Vor allem: Es gibt ihn doch noch, den Sinn für Uneindeutiges, nicht sofort Entscheidbares, für schwierige Fragen statt einfache Antworten! In »Outside« von Marian Mayland etwa geht es um das heikle Thema einer Gedenkkultur und die Frage, wie weit sie trägt. Die fiktionale Holocaust-Autobiografie einer bildenden Künstlerin wird zum Thema. Warum dichtet sich jemand eine Opferbiografie an? Das ist schwieriger zu beantworten, als es anfangs scheint – und die ebenfalls fiktiven Stimmen, die aus verschiedenen Perspektiven den Fall besprechen, zeigen das.

Ich denke an den »Fall Wilkomirski«, der Ende der 90er Jahre für Aufsehen sorgte, als der Schweizer Instrumentenbauer Bruno Dössekker unter dem Pseudonym Binjamin Wilkomirski im Jüdischen Verlag bei Suhrkamp »Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939–1948« veröffentlichte, in dem er auch seine vermeintliche Zeit im KZ protokollierte. Wie sich herausstellte, war Wilkomirski nie dort gewesen, kein Holocaust-Überlebender. Aber handelt es sich hierbei um bloßen Betrug? Offensichtlich sind die Grenzen zwischen Empathie und Identitätswechsel fließend, man spricht heute auch vom »Wilkomirski-Syndrom«.

Ein weiterer, auch formal mutiger Film ist »Merkur« von Johannes Lehnen über eine Spielothek in Frankfurt am Main. Offensichtlich durfte er nicht in der Spielhalle selbst drehen, was dem Film zu originellen Simulationen verhalf, die stärker wirken als Innenaufnahmen aus dem »Merkur«, das eine Art Kette mit über 200 Filialen in Deutschland ist. Fotos, rotierende Glücksräder, Lagepläne, dazu Fakten und Daten als Untertitel zu langen Schwarzblenden. All das zum dauernervigen Geräusch der Flipperautomaten, die wie das Ticken einer verrückt gewordenen Lebensuhr klingen, zeigt die Logik der Sucht. Eine schäbige Welt mit billigen Glücksversprechen, der nicht wenige verfallen sind.

Ansehnlich auch »Vermessung der Tristesse« von Agnieszka Jurek, ein filmischer Essay über den Zusammenklang von Natur und Technik, dessen schrillster Ton die Krankheit ist. Im Stile von Jean-Luc Godards »Bildbuch« werden verschiedenste Sequenzen montiert, die in hochtourigem Tempo eine eigene Geschichte erzählen. Diese kulminiert in der Röhre eines Computertomografen mitsamt der wie ein künstlicher Lebensbogen klingenden Anweisung: »Einatmen – Ausatmen – Atem anhalten.«

Der Beitrag von Paula Milena Weise und Finn Ole Weigt mit dem Titel »Gezielt mittelalterliche Überlegungen« besticht durch seinen sicheren Ausdruck, der Ironie nicht mit Unernst verwechselt. Die Lehrerin Frau Schröder (eindrucksvoll: Thuy-Van Truong), die wir auf Klassenfahrt begleiten, gerät in eine akute Krise: Sie glaubt nicht mehr an ihren Beruf. Ein Schüler setzt sie zudem immer wieder gezielt unter Druck: »Sie dürfen mich nicht anschreien, ich werde Sie melden.«

Und dann läuft plötzlich ein Bär frei herum, der Ausnahmezustand wird für kurze Zeit zur neuen Normalität. Der Verkäufer im Supermarkt hat für Frau Schröder einen passenden Rat: »Im Falle eines Bärenangriffs soll man sich möglichst groß machen.« Aha. Aber was ist schon ein einziger Bär gegen einen ganzen Bus mit Schülern von heute, die alle gewohnt sind, das Sagen zu haben?

Es gibt eine Widerspruchslust in Oberhausen, die hoffnungsvoll stimmt.

Die 70. Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen laufen noch bis zum 6. Mai.

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