»Stromnetze sind wie Blutgefäße«

Antonella Battaglini schmiedet ungewöhnliche Allianzen, um die Energiewende zu schaffen

  • Interview: Martin Reischke
  • Lesedauer: 6 Min.
Energiewende: »Stromnetze sind wie Blutgefäße«

Sie haben Literatur und Philosophie studiert. Wie wird man als Geisteswissenschaftlerin zur Stromnetzexpertin?

Ich habe einen ziemlich chaotischen Lebenslauf. Nachdem ich in der Pharma-Industrie gearbeitet hatte, bin ich in die Wissenschaft gewechselt. Ich habe einige Jahre am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung zum Thema Erneuerbare Energien geforscht, und da wurde mir klar, dass all die neuen, dezentralen Orte, an denen Energie erzeugt wird, miteinander verbunden werden müssen. Da habe ich die Stromnetze zum ersten Mal wirklich wahrgenommen – und damals gab es praktisch niemanden, der zu diesem Thema gearbeitet hat.

… außer den Stromnetzbetreibern selbst.

Natürlich gab es die Betreiber, aber die waren damals quasi unsichtbar, die hatten nicht einmal eine Pressestelle, also wusste niemand irgendetwas über sie.

Auch durch Ihre Arbeit hat sich das geändert. Sie beschäftigen sich nun schon seit fast 20 Jahren mit dem Thema europäische Stromnetze. Für viele Außenstehende dürfte das nach einer eher drögen Arbeit klingen.

Ja, das kann sehr langweilig sein, aber in Wirklichkeit ist es das nicht. Wie so oft im Leben kommt es darauf an, wie man auf die Dinge schaut. Das Thema Stromnetze steht heute ganz oben auf der politischen Agenda, und immer mehr Menschen verstehen, welche Rolle diese Netze für die Energiewende spielen, aber auch für die Energiesicherheit und die Strompreise. Stromnetze sind schließlich viel mehr als nur Masten und Kabel.

Und zwar?

Wir können uns die Stromnetze ein bisschen wie die Blutgefäße im menschlichen Körper vorstellen: Unsere Zellen müssen ständig mit Blut versorgt werden, man kann nicht einfach sagen, der Blutfluss ins Bein wird unterbunden, weil sonst das Bein abstirbt. Bei den Stromnetzen ist es ähnlich: Es muss ständig Strom fließen, damit die Nachfrage bedient werden kann. Heute sehen wir, dass das Thema Stromnetze lange vernachlässigt wurde. Sie sind zum Flaschenhals der Energiewende und Energiesicherheit geworden, und wir versuchen gerade, die verlorene Zeit aufzuholen.

Interview

Antonella Battaglini ist Gründerin der Berliner Nicht­regierungs­organi­sation Renewables Grid Initiative (etwa: Initiative für ein Stromnetz für erneuerbare Energien). Dort bringt sie verschiedene Akteure wie Umwelt-NGOs und Netzbetreiber zusammen, die vorher oft kaum miteinander gesprochen haben.

Die Fronten sind allerdings verhärtet: Netzbetreiber und Umwelt-NGOs stehen sich oft unversöhnlich gegenüber, auch Anwohner-Initiativen torpedieren neue Trassen. Wie gehen Sie damit um?

Ich erinnere mich an eine Veranstaltung im Europäischen Parlament Anfang 2009. Auf dem Podium waren europäische Netzbetreiber und Umweltorganisationen. Die NGOs sagten, sie wollen 100Prozent erneuerbare Energien. Und die Netzbetreiber sagten, sie wollen und müssen neue Stromnetze bauen, um erneuerbare Energien zu integrieren, aber der gesellschaftliche Widerstand gegen neue Hochspannungsleitungen sei viel zu stark. Also bin ich nach der Podiumsdiskussion zu ihnen gegangen und habe gesagt: »Wenn ihr das wirklich ernst meint, müsst ihr zusammenarbeiten!«

Schon ein paar Monate später haben Sie zusammen mit zwei europäischen Netzbetreibern und zwei Umwelt-NGOs die Renewables Grid Initiative gegründet, auf Deutsch etwa: Initiative für ein Stromnetz für erneuerbare Energien. Wie war die Resonanz?

Nachdem wir das Projekt vorgestellt hatten, wurden unsere vier Mitgliedsorganisationen von allen Seiten angefeindet. Das war eine harte Zeit. Auch ich wurde natürlich kritisiert, die Leute sagten mir: »Was zum Teufel machst du? In einem halben Jahr ist die ganze Sache gestorben!«

Allen Unkenrufen zum Trotz hat Ihre Organisation überlebt – und ist sogar kräftig gewachsen. Heute haben Sie etwa 30 Mitglieder in ganz Europa, vor allem Netzbetreiber und Umwelt-NGOs. Was machen Sie genau?

Wir bringen diese verschiedenen Interessengruppen mit unterschiedlicher Expertise zusammen und suchen nach Lösungen, die nicht nur aus technischer Sicht gut sind, sondern auch mit Blick auf Umwelt und Gesellschaft. Das ist schwierig, aber keineswegs unmöglich.

Nennen Sie uns ein Beispiel.

In Deutschland etwa werden über ein Portal Vögel erfasst, die an Hochspannungsmasten verunglückt sind. So versuchen wir gemeinsam mit dem Naturschutzbund Deutschland Nabu und deutschen Netzbetreibern zu identifizieren, welche Leitungen besonders gefährlich für Vögel sind, und suchen nach Möglichkeiten, um die Kollision der Tiere mit den Leitungen zu vermeiden.

Ein anderes Thema ist das sogenannte Korridor-Management. Was hat es damit auf sich?

Wenn eine Stromtrasse gebaut wird, müssen die Trassenkorridore frei gehalten werden. In bewaldeten Gebieten müssen deshalb immer wieder die Bäume zurückgeschnitten werden, oft per Hubschrauber – das ist ziemlich teuer und gefährlich. Aber wenn man von Anfang an die Perspektive der Natur einbezieht, dann kann man auch niedrig wachsende Bäume pflanzen, die nicht ständig zurückgeschnitten werden müssen. Man kann so ganz neue Ökosysteme anlegen.

Der Stromnetzsektor wird traditionell stark von Männern dominiert. War das ein Problem bei Ihrer Arbeit?

Absolut. Es ist ja nicht nur so, dass ich eine Frau bin, sondern ich bin ja nicht mal eine Ingenieurin – das ist fast noch schlimmer!

Wie sahen diese Probleme konkret aus?

Als ich angefangen habe, haben die Männer aus der Branche mir meistens gesagt: »Es ist kompliziert, das Stromnetzsystem ist sehr kompliziert, das verstehst du nicht!« Und so ging es nicht nur mir, sondern auch allen anderen, die Interesse gezeigt haben. Da waren diese Ingenieure, die auf alle Fragen dieselbe Antwort hatten: »Das verstehst du nicht.«

Das hat sich grundlegend geändert: Heute werden Sie auch bei technischen Fragen oft um Ihre Meinung gebeten.

Ich habe den Ingenieuren gezeigt: Wenn ich ihre Erklärungen nicht verstehe, dann liegt es nicht an mir, sondern daran, dass sie die Dinge einfach nicht gut genug erklären. Sie müssen es also besser machen! Und das gilt eigentlich für jedes Thema. Denn wenn du etwas für die Menschen und mit den Menschen tun willst, dann müssen sie es auch verstehen. Heute ist dies zu einer gemeinsamen Anstrengung geworden.

Auf der UN-Klimakonferenz im vergangenen November in Dubai haben Sie Ihr neues Projekt vorgestellt: die Grid Academy. Was verbirgt sich dahinter?

Wir wollen Online-Kurse und Präsenzveranstaltungen zu den drei großen Themenfeldern anbieten, mit denen wir uns beschäftigen: zu technischen, ökologischen und gesellschaftlichen Fragen in Bezug auf den Bau und Ausbau der Stromnetze. Unsere Initiative wird auch in Zukunft europäisch bleiben, aber wir wollen unser Wissen teilen und anderen dabei helfen, ähnliche Initiativen in ihren Regionen zu entwickeln.

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