App nd.Digital: Neues aus der postkapitalistischen Zukunft

Warum es schön ist, wie die App nd.Digital entstanden ist

  • Raul Zelik
  • Lesedauer: 4 Min.
Homestory: App nd.Digital: Neues aus der postkapitalistischen Zukunft

Die Leser*innen und Abonnent*innen sollten es wissen: Ab dieser Woche erscheint das »nd« montags nicht mehr gedruckt, sondern nur noch als Digitalzeitung. Mitte April hat Chefredakteurin Ines Wallrodt darüber berichtet, dass das »nd« hierfür extra eine neue App entwickelt hat. Nur am Rande ihres Berichts taucht jedoch auf, dass die Software gewissermaßen als Nachricht aus der postkapitalistischen Zukunft zu uns kommt. Denn die App namens nd.Digital entstand als Kooperation zweier Betriebe, die sich als Genossenschaften in demokratischem Gemeineigentum befinden: die Schweizer Wochenzeitung »WOZ« und das »nd«. Und: Die Zusammenarbeit der beiden Medienprojekte wurde jenseits des Marktes organisiert. Die Schweizer Genoss*innen arbeiteten an der Entwicklung der nd-App mit, ohne dafür bezahlt oder entlohnt zu werden.

Das »nd« braucht dringend mehrere Tausend Digital-Abos zum Überleben. Mit der neuen App nd.Digital (Arbeitsname »Flamingo«) ist die technische Grundlage dafür geschaffen.
Das »nd« braucht dringend mehrere Tausend Digital-Abos zum Überleben. Mit der neuen App nd.Digital (Arbeitsname »Flamingo«) ist die technische Grundlage dafür geschaffen.

Cyril Müller arbeitet in der IT-Abteilung bei der »WOZ« in Zürich und war tragender Kopf bei der Entwicklung der App. Er betont, dass es keine reine Solidarität gewesen sei, die die ökonomisch relativ gut aufgestellte »WOZ« zur Kooperation mit dem sehr viel ärmeren »nd« bewegt habe. »Es war schon auch Eigeninteresse. Bei der ›WOZ‹ arbeiten wir mit zwei Apps, die für die Betriebssysteme iOS und Android programmiert sind, das resultiert in Mehraufwand. Die App, die wir zusammen entwickelt haben, kann auf beiden Plattformen genutzt werden: sowohl auf IOS als auch auf Android.«

Da die »WOZ« im Augenblick aber ganz konkret die nd-App maßgeblich mit geschrieben hat, haben sich die beiden Genossenschaften auf den Tausch von Arbeitsstunden geeinigt. 200 Stunden programmiert Cyril Müller in Zürich für die Berliner Genossenschaft. Im Gegenzug hat sich die Software-Abteilung des »nd« dazu verpflichtet, 200 Arbeitsstunden für die »WOZ« zu liefern. Für das »nd« bedeutet das ein enormes Entgegenkommen, denn die Arbeitsstunden eines Schweizer Programmierers wären unter Marktbedingungen für uns völlig unbezahlbar.

Auch wenn es also kein reines Unterstützungsprojekt der »WOZ« war, spielt Solidarität also auch eine wichtige Rolle. Und auch technisch hat die Kooperation einen »konkret-utopischen« Aspekt. Die Genossenschaften haben sich darauf verständigt, dass die App keine Ware, sondern ein Gemeingut wird. Das bedeutet, der Quellcode des Programms wird frei zur Verfügung stehen und kann von allen Interessierten geteilt, kopiert und genutzt werden kann. Damit folgt die Zusammenarbeit zentralen Grundsätzen der Freie-Software-Bewegung. Cyril Müller erklärt: »Die nd-App ist nicht komplett frei lizenziert. Sie ist frei im Sinne von gratis, aber – noch – nicht quelloffen, weil einige vom «nd» verwendete Icons lizenziert sind. Aber grundsätzlich wird die App, anders als die Zeitung, kein Marktprodukt sein.«

nd.Digital ist also ein Mikro-Beispiel dafür, wie nicht-kapitalistisches Wirtschaften funktioniert. »Natürlich spielte für uns eine große Rolle, dass das «nd» kein normaler Betrieb ist«, unterstreicht Müller. Denn auch die 1981 gegründete linke Mediengenossenschaft »WOZ« hat den Anspruch, kollektive und demokratische Utopien in die Gegenwart zu holen. Bei der Züricher Wochenzeitung gelten beispielsweise recht strenge Gleichheitsansprüche. »Bei uns gibt es einen Einheitslohn für Festangestellte«, erläutert Müller. »Wenn in der ›WOZ‹ jemand einen stressigeren Job als andere hat, kriegt die Person deshalb nicht mehr Geld.«

Für Müller bedeutet das Modell Einbußen, denn mit dem Einheitslohn verdient er spürbar schlechter, als das für einen Schweizer Programmierer üblich ist. Doch dass materielle Vorteile den wichtigsten Handlungsanreiz für Menschen darstellen, ist eben auch so eine neoliberale Unterstellung, die mit der Wirklichkeit weniger zu tun hat als gemeinhin angenommen. Er sei gern von einem besser bezahlten Job in das linke Medienprojekt gewechselt, berichtet Müller. Die Gleichberechtigung unter den Genossenschaftsmitgliedern, die flexiblere Zeitgestaltung und die Atmosphäre unter den Kolleg*innen wiegen das geringere Gehalt auf. Außerdem verweist Müller auf den inhaltlichen Aspekt. Mit den Kolleg*innen in der IT-Abteilung der »WOZ« teile er die Einstellungen zu Open-Source-Software und digitalen Grundrechten.

Dass Genossenschaften allein noch kein Antikapitalismus sind, wird auch im Gespräch mit dem »WOZ«-Kooperativisten klar. Auf die Frage, wie es um die Genossenschaftsbewegung in der Schweiz stehe, erwähnt Cyril Müller die wichtigste Supermarktkette im Land. »Migros ist eine Genossenschaft, aber der Kooperativen-Gedanke spielt da eigentlich keine Rolle mehr.« Die Einzelhandelskette lässt ihre Gewinne zwar teilweise in eine gemeinnützige Stiftung fließen und ist insofern denn auch kein klassisch-kapitalistischer Konzern. Aber ansonsten ist es eben doch ein ganz normaler gewinnorientierter Supermarkt mit Hierarchien und Niedriglohn-Jobs.

Sich demokratisch und gleichberechtigt als Genossenschaft zu organisieren ist also keine Allzweckwaffe im Kampf um die Zukunft. Aber es ist ein Ansatz, um linke Ziele – Gleichheit, Solidarität, Demokratie – konkreter werden zu lassen. Die Entwicklung von nd.Digital ist insofern ein kleines, praktisches Beispiel dafür, dass auch im entgrenzten Kapitalismus manchmal eine andere Zukunft aufblitzen kann. Wer das »nd« ab Montag mit der App liest, darf jeden Tag kurz daran denken, dass das digitale Werkzeug auch Produkt einer unzerstörbaren Utopie ist: Wir wollen gleicher leben, arbeiten und lesen – über alle Staatsgrenzen hinweg.

Merci, »WOZ«, es lebe die Genossenschafts-Internationale!

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