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Menschenrechtsgruppe Charkiw: Hilfe für Kriegsopfer
Unterwegs mit Menschenrechtlerinnen in einem Vorort der zweitgrößten Stadt der Ukraine
Wieder einmal sind die Juristin Marina Babitsch und die Psychologin und Psychotherapeutin Tatjana Swirina unterwegs. Dieses Mal geht es von der ostukrainischen Metropole Charkiw in die eine Autostunde entfernte Kleinstadt Smijiw. Regelmäßig besuchen die beiden Frauen die Vororte von Charkiw. Bei dieser Fahrt müssen sie mal keine Angst vor der russischen Artillerie haben. Smijiw gilt als ruhig, denn die russische Artillerie reicht hier nicht hin. Gleichwohl haben beide ihren Erste-Hilfe-Koffer mit dabei, um notfalls Leben zu retten, wenn kein Arzt in der Nähe ist, auch das eigene. Man weiß ja nie.
Die beiden Frauen sind gern gesehene Gäste in den Gemeinden um Charkiw. Und so stellen ihnen die örtlichen Behörden immer Räumlichkeiten für die Beratung zur Verfügung. In Smijiw ist es dieses Mal eine Grundschule.
Menschenrechtlerinnen sind gern gesehene Gäste
Etwas unsicher betritt eine gut 60-jährige Dame mit Kopftuch, begleitet von ihrer Tochter, das Gebäude. Die Direktorin, die zufällig im Erdgeschoss ist, begrüßt die Frauen. Viel ist nicht los in der Schule, die 50 Kilometer von der Grenze nach Russland entfernt liegt. Nur aus einem Klassenzimmer hört man Kinderlärm. Die meisten Kinder, so die Direktorin, seien im Homeoffice. Einfach deswegen, weil man in der Schule keinen Schutzraum habe. Und im Gegensatz zu Kiew, wo die Bevölkerung rechtzeitig mit Sirenen vor herannahenden Flugobjekten aus Russland gewarnt werde, sei man im Gebiet Charkiw weniger geschützt, seien doch die Vorwarnzeiten wegen der nahen Grenze so kurz, dass man es nach Auslösen des Alarms kaum in einen städtischen Schutzraum schaffen könne. So seien immer nur die Schüler da, die gemeinsam mit Mitschülern an Projekten arbeiten. »Und natürlich blühen die Kinder auf, wenn sie wieder mal zusammen sein können.«
Die Direktorin führt die beiden Frauen nach oben. Dort sitzen Babitsch und Swirina in einem der vielen leerstehenden Klassenzimmer an einem Tisch und empfangen die Besucherinnen. Beide betreuen für die Menschenrechtsgruppe Charkiw Kriegsopfer.
Bei Vermissten wird auch in Russland angefragt
»Mein Haus ist von der russischen Armee beschossen worden«, berichtet die ältere Dame der Juristin Babitsch. »Seitdem habe ich kein Dach mehr. Es regnet rein, Teppiche, Bücher, Schränke sind nicht mehr zu gebrauchen.« Ein neues Dach koste 900 000 Hrywnja (21 000 Euro), die Stadt habe aber ein Gutachten beauftragt, dass auf eine Summe von nur 300 000 Hrywnja (7000 Euro) kommt. Die Juristin verspricht der Frau, ihr bei der Klage gegen das Gutachten der Stadt zur Seite zu stehen.
Die nächste Frau berichtet, ihr Mann, der an der Front kämpfe, sei vermisst. Möglicherweise ist er in Kriegsgefangenschaft geraten. Die Juristin tröstet sie, nimmt ihre Daten und die Daten des Mannes auf und sagt Hilfe zu. Regelmäßig schreibt die Menschenrechtsgruppe Charkiw auch russische und separatistische Dienststellen an, wenn es um die Suche nach Vermissten geht.
Männer halten sich aus Angst vor der Armee zurück
Männer kommen nur selten zur Beratung. Nur ungern suchen diese einen Ort in der Stadtmitte von Smijiw auf, haben sie doch Angst, einem Vertreter der Wehrbehörde in die Hände zu fallen. Einer kommt an diesem Tag trotzdem. Er hat sich bei einem Luftangriff Brandwunden zugezogen und will wissen, wo er am besten qualifizierte medizinische Hilfe bekommen kann. Babitsch sichert ihm Hilfe durch einen Facharzt zu.
Während es bei der Juristin Babitsch mitunter laut zugeht, sprechen die Frauen in der anderen Ecke des Klassenzimmers mit der Psychotherapeutin Swirina nur im Flüsterton. Und sie legen Wert auf Vertraulichkeit, lassen nicht zu, dass jemand in Hörweite sitzt. Ehefrauen und Mütter von Vermissten wollen nicht, dass Außenstehende von ihrem Leid erfahren.
Kriegsverbrechen werden für ein Tribunal dokumentiert
Mit ihren Beratungen wollen die Menschenrechtler*innen mehrere Aufgaben gleichzeitig wahrnehmen. Wer in die Beratung kommt, ist gleichzeitig auch Zeuge von Verbrechen und Kriegsverbrechen. Und so dokumentieren die Juristinnen der Menschenrechtsgruppe Charkiw die Verbrechen, von denen sie erfahren. Irgendwann, so hoffen sie, wird den Opfern Gerechtigkeit widerfahren, werden die Täter bestraft werden. Ihre Informationen gehen in einer vertraulichen Kommunikation an den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg und de UN-Menschengerichtsrat.
Gemeinsam mit 18 anderen ukrainischen Gruppen hat die Charkiwer Organisation im März 2022 die Koalition »Tribunal for Putin« gegründet und bis heute 35 000 Fälle von schweren Menschenrechtsverletzungen dokumentiert.
Kritik auch an ukrainischen Behörden
Auch wenn die Gruppe aktuell in erster Linie zu den von russischen Truppen und Behörden begangenen Verbrechen arbeitet, hält man sich gleichwohl mit Kritik an den eigenen Behörden nicht zurück, wenn es etwa um die Situation in Gefängnissen oder das vor einem Jahr verabschiedete umstrittene Mediengesetz geht, dass aus Sicht der Menschenrechtsgruppe die Meinungsfreiheit in der Ukraine einschränkt.
Die Arbeit der Menschenrechtsgruppe findet auch im Ausland Anerkennung. Im vergangenen Jahr erhielten die Charkiwer gemeinsam mit anderen den Lew-Kopelew-Preis für Frieden und Menschenrechte.
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