Mal was anderes als Wahlprüfsteine
»Mehr Demokratie« hat eine aufwändige Kampagne für bundesweite Volksentscheide gestartet
Dr. Ole Schröder, Direktkandidat der CDU im Kreis Pinneberg, Typ Schwiegermuttertraum, lächelt freundlich auf dem Flugblatt. Neben seinem Foto prangt ein dickes Nein – ein Nein zu bundesweiten Volksbegehren. Ob er damit auch noch so gut ankommt in seinem Wahlkreis? Zumal, wenn die Pinneberger von Herr Schröder lesen müssen, die Sachverhalte auf Bundesebene seien zu komplex für Volksabstimmungen und direkte Demokratie selbst auf Kommunal- und Länderebene nur mit Vorsicht zu genießen? Möglicherweise machen sie ihr Kreuz bei der Bundestagswahl dann doch lieber bei einem Kandidaten von SPD, FDP, LINKEN oder Grünen, die auch auf dem Flugblatt stehen. Die sind nämlich für die Einführung von deutschlandweiten Volksentscheiden.
Genauso ist es gedacht. Der Verein Mehr Demokratie will erreichen, dass in den nächsten Bundestag vor allem Befürworter direkter Demokratie gewählt werden. Eine Zweidrittelmehrheit ist nötig, um deutschlandweite Volksentscheide im Grundgesetz zu verankern. Die Bundesbürger weiß der Verein auf seiner Seite. 68 Prozent sind laut einer Forsa-Umfrage dafür.
Jenseits des inhaltlichen Anliegens ist die Kampagne vor allem handwerklich interessant. Sie ist mal etwas anderes, als nur mit den sonst fast unvermeidlichen Wahlprüfsteinen die Übereinstimmung des eigenen politischen Programms mit den Wahlversprechen der Parteien abzugleichen. Denn diese Kampagne informiert nicht nur, sondern setzt die Kandidaten direkt unter Druck, in einer Zeit, wo sie am empfindlichsten sind: Sie müssen sich mit Foto und Name offenbaren und können sich nicht hinter einer Parteilinie verstecken. Jeder einzelne der 1495 Direktkandidaten wurde mit der Gretchenfrage angeschrieben: Volksentscheide, ja oder nein? Ein ausgeklügeltes System sorgt dafür, dass ihre Antworten in jedem Wahlkreis verbreitet werden. Das macht viel Arbeit und kann deshalb wohl nicht von jeder Gruppe einfach nachgemacht werden – »Mehr Demokratie« hat 30 Vollzeit-Stellen.
Zunächst werden die Statements der Politiker im Netz, später auf Papier veröffentlicht, pro Wahlkreis ein Flugblatt. Rund 300 verschiedene können es also werden, vollständig sind derzeit etwa die Hälfte. Um die 1100 Kandidaten haben sich bislang zurückgemeldet. Wer in Aachen oder Zwickau wohnt, kann bereits Flugblätter bestellen, die Flensburger müssen noch warten: Dort haben bisher nur die Kandidaten von CDU und Grünen geantwortet, die anderen Fotofelder sind leer, versehen mit dem Zusatz: »Der Kandidat hat sich zu der Frage nicht geäußert.« Damit ein Flugblatt gedruckt wird, müssen mindestens drei Rückmeldungen da sein. Und Geld. Denn der Bundesverband steckt selbst grundsätzlich keines in den Druck, sondern produziert je nach »Auftragslage«.
Neben der klassischen Bestellung der Flugblätter gegen eine bestimmte Summe kann man auch dafür spenden, dass das Flugblatt in einem bestimmten Wahlkreis verbreitet wird. Eine innovative Idee: Sind 330 Euro zusammen, werden 5000 »Flugis« gedruckt und von einem professionellen Dienst verteilt. Das Spendenbarometer auf der Homepage zeigt für jeden Wahlkreis den aktuellen Stand: »Noch 240 Euro bis zur nächsten Flugblattverteilung«, heißt es dann etwa für Bochum I.
Charmant an dem Verfahren ist noch ein anderer Aspekt: Die Kandidaten haben selbst ein Interesse an der Verbreitung der »Flugis«. Es ist ganz attraktiv, sich von einer unabhängigen Initiative in einem guten Licht präsentieren zu lassen. Noch sind die Ja-Kandidaten zwar nicht die Hauptfinanzierungsquelle, aber es werden immer mehr, die die Flugblätter für ihren Wahlkampf nutzen, sagt Mehr-Demokratie-Sprecherin Lynn Gogolin. So habe etwa die Linkspolitikerin Petra Sitte für ihren Wahlkreis Halle 500 Stück geordert. Insgesamt sollen schon über 100 000 Flugblätter unters Wahlvolk gebracht worden sein – noch vor Beginn der heißen Kampagnenphase Anfang September.
Obwohl es unpopulär ist, sagen dennoch relativ viele Direktkandidaten »Nein«. Vor allem die Unionsparteien sehen bei Durchsicht der Wahlkreise schlecht aus. Überraschend ist das nicht. Die Union verhindert seit Jahren die Einführung deutschlandweiter Volksabstimmungen. Insofern wird jede Ja-Stimme aus ihren Reihen besonders beachtet – 26 sind es nach bisherigem Stand. Manches Ja klingt mit der Begründung eher wie ein »Ja, aber«. Das stört die Kampagnenmacher jedoch nicht. »Wir rechnen damit, dass die Publik-Machung der Kandidaten-Meinungen einen Effekt hat«, sagt Gogolin. »Politiker müssen ihre Meinung stärker an den Interessen der Wähler ausrichten.« Und schließlich ist auch das wackelige Ja eine Zusage. Der Verein hat damit ein Faustpfand für die kommende Legislaturperiode, wenn es an die Einlösung des Versprechens geht. »Daran werden wir sie natürlich erinnern«, kündigt Gogolin an.
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