Nackter Kaiser

  • Lesedauer: 3 Min.
Der Chefökonom des DGB publizierte u. a. über »Einkommensreichtum und seine Ursachen«.
Der Chefökonom des DGB publizierte u. a. über »Einkommensreichtum und seine Ursachen«.

In wenigen Tagen lässt die Tigerentenkoalition die Katze aus dem Sack. Noch wird spekuliert, verkündet und dementiert. Eines ist jedoch jetzt schon klar: Der soziale Kahlschlag kommt nicht in dem Ausmaß, wie zum Teil befürchtet. Die schwarz-gelbe Koalition ist nicht lebensmüde. Merkel, Westerwelle & Co gehen großen sozialen Konflikten aus dem Weg. Damit scheitern viele wirtschaftsliberale Wunschträume an der Realität. Wachstumsflaute und Schuldenberg lassen wenig Raum für Steuergeschenke. Die Angst vor zornigen Gewerkschaften und wandernden Wählern schützt vermutlich Arbeitsrecht, Mitbestimmung und Sozialleistungen.

Der Ab- und Umbau des Sozialstaates ist damit aber nicht gestoppt. Im Gegenteil: Der neoliberale Pfad wird weiter ausgetrampelt. Die zentralen Richtungsänderungen wurden bereits unter den Regierungen Schröder und Merkel vorgenommen. Jetzt geht es der Nachfolgeregierung nur noch darum, den eingeschlagenen Weg nicht mehr zu verlassen.

Auf dem Arbeitsmarkt werden Mini-, Midi- und Ein-Euro-Jobs, Leiharbeit, unfreiwillige Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsverhältnisse weiter wie Pilze aus dem Boden sprießen. Hungerlöhne breiten sich weiter aus. Die geplante gesetzliche Ächtung sittenwidriger Löhne ändert daran nichts. Sie zementiert lediglich den Status Quo.

Krisenbedingte Steuerausfälle von mehr als 85 Milliarden Euro leeren die Kassen des Bundes, der Länder und Kommunen. Gleichzeitig zwingt die Schuldenbremse die Kassenwarte dazu, die Defizite schnell wieder auszugleichen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit durch Sparpolitik. Dann werden Investitionen, Zuschüsse und Sozialleistungen gekürzt, Personal abgebaut und öffentliche Dienstleistungen privatisiert.

Im Gesundheitswesen setzt sich der Weg in die Zweiklassenmedizin fort. Die Zuzahlungen steigen und die Grundversorgung wird abgebaut. Die paritätische Finanzierung wird weiter durchlöchert, wenn die Kassen den Zusatzbeitrag bald beliebig erhöhen können.

Bei der Rente ist ohne politische Korrekturen Altersarmut vorprogrammiert. Die Rente mit 67 wirkt wie eine direkte Rentenkürzung. Der Abbau des Leistungsniveaus der gesetzlichen Rentenversicherungen zwingt die Mittelschicht zu mehr privater Altersvorsorge. Allianz, AXA & Co reiben sich die Hände.

Die große Gefahr liegt somit nicht in der großen schwarz-gelben Abrissbirne. Die Gefahr liegt vielmehr in einer fortgesetzten schleichenden Zersetzung der Grundlagen des Sozialstaates. Für die Betroffenen ist dies dennoch keine günstige Ausgangslage. Gegen das Nichtstun und das Drehen kleiner Schräubchen lässt sich nur sehr schwer mobilisieren.

Hier hilft nur die alte Fußballerregel: Angriff ist die beste Verteidigung. Schließlich ist der Kaiser nackt. Die neue Regierung hat keine Antworten auf die Jahrhundertkrise. Was tun, wenn Amerikaner, Briten und Spanier nicht mehr auf Pump unsere schönen Autos und Maschinen kaufen? Die Welt nach der Krise ist eine andere. Das Modell einer hoch wettbewerbsfähigen Exportindustrie einerseits und eines billigen Dienstleistungssektors sowie armen Staates anderseits hat keine Zukunft.

Doch wie soll der Binnenmarkt wachsen und der Staat handlungsfähig werden, wenn Beschäftigte, Rentner und Arbeitslose die Zeche dieser Krise zahlen? Man wird sich wohl wehren müssen.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!