Ein nie gelindertes Trauma
Vor 22 Jahren griffen irakische Truppen die Stadt Halabja mit Giftgas an
Südöstlich von Sulaimaniya, Hauptstadt der gleichnamigen Provinz im kurdischen Nordirak, erstreckt sich eine weite Ebene, die im Osten vom mächtigen Zagros-Bergmassiv und im Westen vom Darbendikan-Stausee begrenzt wird. Der Boden ist fruchtbar, Felder und Wiesen leuchten tiefgrün in der Märzsonne. Die Straße nach Halabja führt vorbei an kleinen Bachläufen, Kinder lassen ihre Füße im Wasser baumeln, Männer haben ihre Autos zum Frühjahrsputz ans Ufer gefahren. Alles wirkt friedlich. Die irakischen Wahlen sind vorbei und während die Politiker in Bagdad sich bereits gegenseitig des Wahlbetrugs beschuldigen, nutzt die Bevölkerung im Norden die ausgedehnten Feiertage, um in der Frühlingssonne Nässe und Kälte der Wintermonate abzuschütteln.
Weniger friedlich ging es hier vor 22 Jahren zu, auch wenn die ersten Frühlingstage die Menschen damals ebenso aus ihren Häusern gelockt haben dürften. Im März 1988 herrschte Krieg. Bereits acht Jahre hatten sich Irak und Iran ineinander verbissen. Mit Opferzahlen bis zu einer Million auf beiden Seiten waren Ursache und Ziel des Krieges bei vielen vermutlich schon vergessen. Die Vereinten Nationen versuchten seit Monaten. einen Waffenstillstand zu vermitteln, aber keine der Kriegsparteien wollte ihr Gesicht verlieren.
In der Kleinstadt Halabja und den umliegenden Dörfern lebten damals etwa 80 000 Menschen. Der Ort liegt nicht weit von der iranisch-irakischen Grenze entfernt und ist bis heute von strategischer Bedeutung. Wiederholt war das Gebiet Schauplatz von Kämpfen. Iranische Truppen, unterstützt von den kurdischen Peschmerga, waren tief in kurdisch-irakisches Gebiet vorgerückt. Der iranische Rundfunk rief in diesen Märztagen Truppen und kurdische Kämpfer auf, sich auf die Einnahme Halabjas vorzubereiten. Erste Peschmerga und iranische Soldaten waren bereits eingetroffen, auch Kriegsberichterstatter waren am Ort, in Bagdad herrschte Alarmstimmung. Seit Monaten hatte die Luftwaffe vermeintliche oder tatsächliche Stellungen der Peschmerga bombardiert; die systematische »Säuberung« der Region wurde bekannt als Anfal-Operation, der Zehntausende Männer, Frauen und Kinder zum Opfer fielen – getötet, vertrieben oder »verschwunden«.
Halabja war in höchster Gefahr, doch die Bevölkerung ging, aus Unwissenheit oder Gleichmut, am 16. März 1988 wie gewohnt ihrem Alltag nach, berichtet Sherzad Tawik, der damals zehn Jahre alt war und heute im Museum von Halabja Besucher durch die Ausstellung führt. Drei Tage lang dauerten die Angriffe schon, erinnert er sich und erzählt, wie sein Vater beim Mittagessen sagte: »Vielleicht ist es unser letztes gemeinsames Essen, vielleicht sind wir morgen schon tot.« Dann begann die Bombardierung mit verschiedenen Nervengasen. Für die Menschen gab es kein Entrinnen. Auf der Straße und am Herd, im Auto, auf der Türschwelle, in der Werkstatt und auf dem Feld – Menschen und Tiere erstickten, wo sie waren. Bis zu 5000 Menschen starben. Wer überlebte, leidet bis heute an den Folgen schwerer Verbrennungen und einem nie gelinderten Trauma. Zehntausende flohen über die Berge nach Iran, erzählt Sherzad. Er floh mit Mutter und Brüdern, den Vater trafen sie erst 20 Tage später in einem Flüchtlingslager in Iran. Dort blieben sie vier Jahre.
Im Museum sind Dutzende Fotos zu sehen, grauenhafte Dokumente eines grauenhaften Geschehens, das bekannt wurde, weil Kriegsberichterstatter an Ort und Stelle waren und die iranische Armee fast unmittelbar nach der Bombardierung internationale Medien nach Halabja brachte. Bestimmung und Herkunft des Gifts wurde mangels internationaler Untersuchung nie zweifelsfrei geklärt. Doch Halabja und das Massaker wurden zum Inbegriff der Kurdenverfolgung durch den damaligen irakischen Präsidenten Saddam Hussein und diente den USA, Großbritannien und ihren Bündnispartnern als Beleg dafür, dass Irak über Massenvernichtungswaffen verfügte. 15 Jahre später, im März 2003, wurde auch mit Halabja die völkerrechtswidrige Invasion begründet.
Für internationale und irakische Politiker ist der Besuch des Museums von Halabja heute Anlass zu versichern, dass sich eine solche Tragödie nie wiederholen wird. Doch die Opfer sind der schönen Worte müde. Wie in den Seelen und auf den Körpern der geschundenen Menschen sind auch in den umliegenden Dörfern noch immer die Spuren der Zerstörung zu sehen.
Eines dieser Dörfer ist Anap. Keine befestigte Straße führt dorthin, und doch sind einige Familien zurückgekehrt. Sie weiden ihr Vieh und bestellen ihre Felder, doch die zerstörten Häuser von damals bleiben verwaist. Über dem Dorf erhebt sich vor der überwältigenden Kulisse des Zagros-Gebirges ein Denkmal, das Anfang der 90er Jahre errichtet wurde. Still ist der Ort, weit und offen genug, um all der Opfer der vielen Kriege zu gedenken, die dieses Land gesehen hat. Vögel zwitschern, unten im Dorf kräht ein Hahn, nachsichtig bedeckt ein bunter Blütenteppich das Leid aus Vergangenheit und Gegenwart.
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