Die Ja-Sager und die Nein-Sager
Im Musterländle sind sich Befürworter und Gegner des Bahnprojekts Stuttgart 21 nach wie vor nicht grün
»Das wird 'ne ganz knappe Kiste.« Wolfgang Dietrich spricht eindringlich zu den etwa 60 Besuchern im »Gasthof Löwen« in Süßen, einer Kleinstadt, die 50 Kilometer südlich von Stuttgart liegt. Der Unternehmer ist Sprecher des Projekts Stuttgart 21 und zurzeit auf Werbetour. Die Befürworter des unterirdischen Bahnhofs sollen zur Volksabstimmung gehen und »Nein« ankreuzen. Deshalb reist Dietrich in diesen Wochen durchs Ländle. Viel Zeit bleibt nicht mehr: Am 27. November sollen die Baden-Württemberger abstimmen. Der Wahlkampf von S21-Befürwortern und -Gegnern ist im Gange.
Wichtig ist für beide Lager, ihre Botschaften außerhalb von Stuttgart an den Mann und die Frau zu bringen. In der Landeshauptstadt selbst kennt man das Thema in- und auswendig. Wichtig ist auch zu erklären, warum die Befürworter von Stuttgart 21 mit »Nein« und die Gegner mit »Ja« stimmen müssen. Denn die 7,5 Millionen Wahlberechtigten sollen sagen, ob sie für oder gegen das »Gesetz über die Ausübung von Kündigungsrechten bei den vertraglichen Vereinbarungen für das Bahnprojekt Stuttgart 21 (S21-Kündigungsgesetz)« sind.
Geh doch nach drüben!
Wer also will, dass das Land aussteigt aus der Finanzierung des Projektes, kreuzt »Ja« an. Diejenigen, die den Tiefbahnhof wollen, müssen ihr Kreuz bei »Nein« machen. Das versteht nicht jeder. Auch im »Löwen« sorgt das für Irritationen. »Des isch doch viel zu kompliziert«, beklagt sich ein älterer Herr. »Wenn i scho Probleme hab, wie soll oine 80-Jährige des begroife?« Bei der Veranstaltung der Initiative »Pro Stuttgart 21« lauschen etwa 60 Frauen und Männer an langen Tischen bei Bier und Wurstsalat Dietrichs Ausführungen. Die Befürworter von Stuttgart 21 sind hier in der Mehrheit, doch auch einige S21-Gegner haben sich in die »Löwen«-Stube getraut. Wie so oft sind diese Aktivisten Fachleute auf Einzelgebieten des Bauprojektes. Sie kennen Taktfrequenzen von Zügen und fragen gezielt nach Barrierefreiheit und dem Sicherheitskonzept für den Tiefbahnhof. Warum man nicht von der Schweiz lernen wolle, die einen hervorragenden Taktfahrplan habe, will einer wissen. Er redet sich in Rage, bombardiert den Saal mit Einzelheiten. Am gegenüberliegenden Tisch wird eine Gruppe von Pro-Stuttgart-21-Herren unwirsch. »Dann müssen Sie halt auswandern!«, ruft einer. Es wird laut im Saal. »Geh doch nach drüben«, war früher der gängige Spruch, der denjenigen an den Kopf geworfen wurde, die im Ländle nicht alles großartig fanden. Auch heutzutage sind viele davon überzeugt, als Baden-Württemberger per se besser zu arbeiten als der Rest der Republik. Denn: »Wir finanzieren über den Länderfinanzausgleich zwölf Bundesländer«, erklärt ein S21-Befürworter stolz. Da solle man doch froh sein, wenn das Land für den Bau der Strecke von Stuttgart nach Ulm endlich mal Geld vom Bund zurückbekomme. Das kommt gut an. Zumal Wolfgang Dietrich gerade erklärt hatte, dass ohne Stuttgart 21 die neue Strecke nicht gebaut werde.
Grüne gegen Rote
Baden-Württembergs Verkehrsminister Winfried Herrmann (Grüne) dagegen sagt, der Tiefbahnhof und die Neubaustrecke hätten nichts miteinander zu tun. Ein Beispiel für vieles in der Debatte: Zu fast jedem Einzelthema gibt es unterschiedliche Meinungen. Sind die Mineralquellen unter Stuttgart sicher? Kann man den Ingenieuren der Bahn vertrauen? Wird die für die Kosten vorgesehene Obergrenze eingehalten? Die S21-Gegner verneinen, verweisen auf die Kostensteigerungen in den vergangenen Jahren und auf schlechte Erfahrungen mit Bahnprojekten. Die Befürworter sagen zwar, es gebe keine Anzeichen dafür, dass die Kostenobergrenze von 4,5 Milliarden Euro überschritten werde. Aber sie werden vorsichtig. So erklärt Dietrich an diesem Abend in Süßen, alles könne man nicht im Voraus berechnen, zum Beispiel, ob die Inflationsrate von veranschlagten zwei Prozent auch künftig reiche. »Ein Kostenrisiko haben wir tatsächlich«, meint er. Sollte alles mehr als die geplanten 4,5 Milliarden Euro kosten, müsse man halt »miteinander reden«. Doch viel teurer als jedes Bau- oder Finanzierungsproblem bei Stuttgart 21 sei der Ausstieg, erklärt Dietrich. Die Befürworter verweisen da gerne auf die Kosten, die die Bahn AG für einen Ausstieg veranschlagt: 1,5 Milliarden Euro. Dietrich setzt noch eins drauf: Das seien alte Zahlen, das werde viel teurer. Die Gegner rechnen anders und gehen von etwa 350 000 Euro Schadenersatzkosten fürs Land aus.
Jede Seite ist davon überzeugt, Recht zu haben. Die S21-Gegner sehen technische Mängel, üben Kritik an finanzpolitischen Tricksereien, fühlen sich belogen. Und bestätigt. Schließlich sind sämtliche Verbände, die sich seit Jahrzehnten für einen besseren Schienen- und öffentlichen Nahverkehr einsetzen, gegen Stuttgart 21. Was soll man überhaupt mit einem teuren neuen Bahnhof, wenn der bestehende im Grunde gut funktioniert? Den Fortschrittsglauben, den die Pro-S21-Liga mit diesem Großprojekt vertritt, teilen die Gegner nicht.
Im Süßener »Löwen« sitzen auf dem Podium die örtliche CDU-Landtagsabgeordnete Nicole Razavi und der SPD-Landtagsabgeordnete des benachbarten Wahlkreises, Sascha Binder. Das ist eine Besonderheit in diesem Wahlkampf: Weil die Grünen gegen den Bahnhof sind, die SPD aber dafür ist, machen die Koalitionspartner der grün-roten Landesregierung gegeneinander Wahlkampf und SPD-Leute treten gemeinsam mit CDU-Leuten auf.
Jackett oder Janker
In Aichwald bei Stuttgart allerdings sitzen sich zwei SPD-Mitglieder gegenüber. Der Bürgermeister der 4000-Seelen-Gemeinde, Nicolas Fink, ist in der SPD und spricht sich für den Tiefbahnhof aus. Klaus Riedel vertritt die SPD in einem benachbarten Gemeinderat und ist gegen Stuttgart 21. In Aichwald gibt es keinen Bahnhof und keinen S-Bahn-Anschluss, es gibt viele freistehende Einfamilienhäuser. Die Gemeinde ist stolz darauf, keine Schulden zu haben. Die CDU holte hier bei der Landtagswahl im März 42 Prozent. Etwa 100 Aichwalder sind an diesem Abend der Einladung der örtlichen BUND-Gruppe und einer Bürgerinitiative gegen S21 gefolgt. Die meisten sind über 50 Jahre alt, man trägt Jackett oder Janker. Die S21-Gegner bilden die Mehrheit, und auch hier sind sie Kenner der Materie, wissen, wie Grundwasserströme verlaufen, erklären Probleme beim Tunnelbau.
Als es um die Kosten geht, steht sofort das Thema Demokratie auf dem Programm. »Man hat das Parlament über die wahren Kosten belogen!«, heißt es wütend. Die Pro-S21-Leute schütteln die Köpfe, die Gegner murren - darum, einander zu überzeugen, geht es nicht mehr. Man will sich jeweils nur vergewissern, auf »der richtigen Seite« zu sein. Auch über das Quorum wird diskutiert.
Damit das S21-Ausstiegs-Gesetz in Kraft tritt, muss am 27. November ein Drittel der Wahlberechtigten mit »Ja« stimmen. Das gilt als hohe Hürde. Überdies müssen die Ja-Sager bei der Abstimmung die Mehrheit haben. Beide Seiten haben Kampagnenbüros eingerichtet. Beim Verein »Pro Stuttgart 21«, der von Politikern aus der CDU, der SPD, der FDP und Wirtschaftsvertretern angeführt wird, hat man nach eigenen Angaben 250 000 Euro, die aus Spenden stammen sollen, als Budget zur Verfügung. Bislang seien 50 000 Plakate geklebt worden. Zusätzlich steckt die Region Stuttgart eine Million Euro in eine eigene Pro-S21-Kampagne.
Die Gegner von Stuttgart 21, also die »Ja-Sager« bei der Volksabstimmung, geben ein Budget von 350 000 Euro an. Allein die Grünen haben 150 000 gespendet. 60 000 Plakate wurden bislang ausgeliefert, für mehr sammle man weiter Spenden, heißt es aus dem Büro, an dessen Organisationsspitze das »Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21«, der BUND, die Grünen, die LINKE und der DGB stehen. Beim Engagement vor Ort liegen die »Ja-Sager« klar vorn. Ihr Terminkalender verzeichnet bis zur Abstimmung noch knapp 300 Veranstaltungen, von Info-Tischen bis zu Diskussionen und Filmvorführungen. Alleine am morgigen Aktionstag sind 74 Veranstaltungen vorgesehen. Die »Nein-Sager« führen für den gleichen Zeitraum 32 Termine auf. Es gebe zwar mehr, heißt es beim Verein, aber man würde nicht alle lokalen Veranstaltungen veröffentlichen, weil diese sonst von S21-Gegnern gestört würden.
»Wir wollen am 27. November eine Mehrheit erreichen«, verkündet der S21-Sprecher Wolfgang Dietrich im Süßener »Löwen« das Ziel. Nur dann könne das Thema Stuttgart 21 endlich befriedet werden. Für die S21-Gegner wäre das bitter. Doch Hannes Rockenbauch, der Sprecher des Aktionsbündnisses, meint: »Dann wäre nur das Ausstiegsgesetz gescheitert. Aber die Kritikpunkte bleiben ja. Wie es dann mit dem Widerstand weiter geht, entscheiden die Menschen.« Sollte das Quorum von einem Drittel nicht erfüllt werden, eine Mehrheit der Stimmen aber für den Ausstieg sein, dann »erwarten wir vom Landtag, dass er diese Mehrheit berücksichtigt, wie es in der Demokratie üblich ist«, sagt Rockenbauch. Am besten wäre, wenn mehr als ein Drittel der Wahlberechtigten für den Ausstieg stimmt. »Dann feiern wir.«
Einig sind sich Gegner und Befürworter von Stuttgart 21 nur in einem: Es sollen viele zur Wahl gehen. In den 58 Jahren, in denen die CDU regierte, durfte die Bevölkerung Baden-Württembergs noch nie über ein Gesetz abstimmen. Vielleicht nutzt sie jetzt die Chance.
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