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mm Minen-Altlasten am 17. Breitengrad

Noch 24 Jahre danach ist für Quang Tri der Krieg nicht zu Ende Von Horst van der Meer

  • Lesedauer: 6 Min.

DerSolidantätsdienst-international (SODI) ist die einzige ostdeutsche Organisation in der weltweiten Anti-Landminen-Kampagne, die morgen den Friedensnobelpreis erhält. Er bereitet gerade ein neues Projekt in Vietnam vor.

Der Geschäftsführer von medico international ist einer der Mitbegründer der »Internationalen Kampagne zum Verbot von Landminen«

Foto: medico Archiv

Von Minen verstumme t:

Als wir im vorigen Jahr auf dem Weg nach Dong Ha, der Hauptstadt der mittelvietnamesischen Provinz Quang Tri, auf einer neuen Brücke den Fluß Ben Hai überquerten, befanden wir uns scheinbar in einer Region ewigen Friedens. Nichts deutete darauf hin, daß der Fluß vor 24 Jahren die Grenze zwischen Nord- und Südvietnam markierte und große Flächen der Provinz am 17. Breitengrad von Blindgängern und Landminen aller Art durchsetzt sind. Wir hatten für SODI die weite Reise angetreten, um uns über die Situation in der von schweren militärischen Auseinandersetzungen gezeichneten Provinz zu informieren und Unterstützung anzubieten.

Noch heute liegen in Quang Tri 10 000 Hektar Land in der Ebene brach, weil sie nur unter Lebensgefahr betreten werden können. Im angrenzenden Bergland, das land- und forstwirtschaftlich genutzt werden könnte, ist eine Fläche von 1800 Quadratkilometern noch nicht systematisch nach Minen und Blindgängern abgesucht worden. 20 000 Menschen haben in dieser Region nicht die geringste Existenzgrundlage. Aber der vietnamesischen Regierung und der Provinzverwaltung fehlen die Mittel, um dies ernsthaft ändern zu können.

Wir fragten uns, wo und wie man hier anfangen solle. Aber bald konnten wir feststellen, daß es gut durchdachte Vorstellungen davon gibt, wie Schritt für Schritt die Kriegsfolgen und die Rückständigkeit überwunden werden können. Im Volkskomitee der Provinz war man deshalb auch gar nicht verlegen, uns mehrere Entwicklungsprojekte vorzuschlagen, in denen Minenräumen, Wiederansiedlung und Existenzsicherung gekoppelt sind.

Wir wählten zwei Vorschläge aus und fuhren zuerst in den Distrikt Cam Lo an der damals strategisch wichtigen Straße Nr. 9 nach Laos, der während der Kämpfe vor 25 Jahren schwer in Mitleidenschaft gezogen worden war. Hier sollen 29 Hektar von Minen und anderen Blindgängern geräumt werden, um in der zweiten Phase 50 Familien mit über 250 Angehörigen dort wieder anzusiedeln, wo einst ihr Dorf Phuong Coi stand. Das Projekt hatten Vertreter des Distrikts und der Landgemeinde gemeinsam mit den Betroffenen ausgearbeitet.

Wir suchten mehrere Familien auf, die als landlose Bauern in umliegenden Ortschaften leben und sich hier keine sichere Existenz aufbauen können. Der Bauer

nem 16jährigen Sohn zerschmetterte die; selbe Mine ein Bein und einen Unterarm. Die Familie mußte während des Krieges Haus und Hof verlassen und wartet wie viele andere darauf, in das noch heute minenverseuchte Gebiet zurückkehren zu können.

Das zweite Projekt liegt im Distrikt Trieu Phong. Hier wurde während des Krieges ein Dorf zwangsausgesiedelt, damit eine US-Infanteriebasis errichtet werden konnte. Heute liegen auf diesen 36 Hektar Antipersonen- und Antipanzerminen, Handgranaten, Granatwerfermunition sowie Blindgänger von Artilleriegeschossen und Bomben. Hier soll das Dorf Ai Tu für zunächst 100 Familien mit über 500 Angehörigen wiedererstehen. Sie mußten sich nach der Zwangsevakuierung in einer sandigen Flußniederung einrichten und befinden sich seither in einer ausweglosen Situation.

So auch die Familie des 30jährigen Le Nam. Ihm stehen mit Frau, zwei Kindern und Schwiegermutter lediglich 1000 Quadratmeter Sandfläche zur landwirtschaftlichen Nutzung zur Verfügung. Die

staatliche Bewegungen in über 60 Ländern an/ctävWi 16 in Deutschland. Sie haben großen Anteil an dem in Ottawa unterzeichneten Verbot von Antipersonen-Minen, wobei erstmals auch Nichtregierungsorganisationen in einer Völkerrechtsvereinbarung erwähnt werden. Die Kampagne wird morgen in Oslo mit dem Friedensnobelpreis geehrt.

Leben. Zunächst erhält jede Familie 400 Quadratmeter Gartenland und je zwei Hektar zur landwirtschaftlichen Nutzung. Die staatlichen Stellen sichern die Lebensmittelversorgung für sechs Monate, während die Familien die Umsiedlung und den Bau der Unterkünfte mit eigenen Kräften bewältigen. Die Mittel für die Infrastruktur (Wege, Wasserversorgung, Energie), für den Bau eines Gemeindehauses, einer Schule und eines Kindergartens können im Lande nicht aufgebracht werden. Das Gleiche trifft auf die Kosten für das Minenräumen zu.

SODI steht kurz vor dem erfolgreichen Abschluß von Verhandlungen, die den größten Teil der Mittel für den Start der Minenräumung im Frühjahr 1998 sichern werden. Es ist geplant, mit Unterstützung eines erfahrenen Minenräumungsunternehmens die Flächen zu säubern: Die Gerbera mbh aus Königs Wus-

terhausen bei Berlin beseitigt derzeit bereits in Laos Minen und ist in Angola in der gleichen Sache von der UNO mit der Qualitätssicherung beauftragt. Nach Vietnam wird Gerbera Spezialisten mit Räumgerät und Schutzkleidung entsenden, um einheimische Minenräumer anzuleiten. Das Gerät stammt von der Kölner Firma Ebinger, die ausgewählt wurde, weil sie - im Unterschied zu anderen Unternehmen der Branche - daneben nicht gleichzeitig auch Minen produziert. Die Wiederansiedlung der Dörfer Phuong Coi und Ai Tu verlangt weitere Mittel, die wir nicht nur durch Einzelspenden, sondern auch durch einen größeren Zuschuß aufbringen wollen. Ohne die Aktivität unserer Mitglieder und ohne Geldund Sachspenden aus der Bevölkerung kann das ehrgeizige Projekt nicht realisiert werden.

N

? Sie waren zur Minenkonferenz in Ottawa. Was ist vom Vertrag zu halten?

Er ist ein erster Schritt. Es werden genau jene Minen verboten, die Menschen am stärksten gefährden. Aber es gibt auch andere als die Antipersonen-Minen, die noch nicht erfaßt sind, Antipanzer-Minen etwa. Und dann muß sich das Vertragswerk natürlich erst noch beweisen - wenn es darum geht, die rund 120 Millionen Landminen in über 70 Staaten zu räumen und ihren Opfern zu helfen, mit Prothesen, Medikamenten, durch ihre soziale und ökonomische Reintegration in die Gesellschaft. Alle 20 Minuten wird heute ein Mensch von der heimtückischen Waffe verletzt oder getötet.

? Läßt sich mit dem Vertrag Druck machen gegenüber NichtUnterzeichnern wie Rußland, China, USA?

Die ganze Öffentlichkeit, die wir erzielt haben in den letzten Jahren, übt Druck aus. Und es gibt ja noch andere Gremien, die Abrüstungskonferenz in Genf zum Beispiel oder die Überprüfung des UN-Minen-Protokolls, die in drei Jahren wieder Thema ist.

? Bonn hat unterschrieben, gibt aber zugleich Millionen für die Entwicklung von Hightech-Minen aus, weitaus' mehr als für die Minenräumung. Ein Ansatzpunkt für die Kampagne?

Wir wissen, wie teuer humanitäre Entminung ist. Eine einfache Mine kostet vielleicht drei US-Dollar, ihre Beseitigung aber rund 1000. Da ist es schon grotesk, wenn Bonn mehr als 100 Millionen Mark für die Entwicklung neuer Minentechnologien ausgibt. Auch das militärische Minenräumgerät, das angeschafft wird, ist zivil nicht nutzbar. Wir fordern deshalb eine Umwidmung dieser Mittel für humanitäre Hilfsprogramme.

? Sie haben für einen Minenfonds mit der Bundesregierung gewettet...

Und mit über 500 000 Mark Spenden liegen wir deutlich über unserem Ziel. Das zeigt, wie groß die Bereitschaft in der Bevölkerung ist, etwas zu tun. Wir werden die Aktion fortsetzen, und ich bin auch optimistisch, daß wir mit unserer Mobilisierung der Öffentlichkeit zu nennenswerten Veränderungen bei der Ausgabenpolitik der Bundesregierung kom-

men.

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