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  • Politik
  • Gedanken zum »Schwarzbuch des Kommunismus«

Das blutige Jahrhundert

  • Lesedauer: 10 Min.

Harald Kretzschmar Das große Tamtam

Von Mieczyslaw F. Rakowski

Das 20. Jahrhundert wird in die Geschichte nicht nur wegen der schier unglaublichen Zahl technischer Erfindungen eingehen, sondern auch als Jahrhundert, in dem der Völkermord zur Methode wurde, um vorgegebene Ziele zu erreichen.

Es wurde aus vielerlei Gründen gemordet - ideologischen, ökonomischen, politischen, religiösen und anderen. Was uns jedoch das 20. Jahrhundert gebracht hat, läßt sich nur schwer verstandesmä-ßig erfassen: Trotzdem muß man nach den Ursachen für dieses unwahrscheinliche Massaker an -zig Millionen unschuldiger Menschen forschen. Das ist der erste Gedanke, der sich nach dem Lesen der Arbeit einer Autorengruppe unter dem Titel »Schwarzbuch des Kommunismus - Verbrechen, Terror, Repressionen« .aufdrängt, die unter Redaktion von Stephane Courtois in Paris im vorigen November erschien.

Schon allein der Vergleich der Opfer des Faschismus und des Kommunismus bietet Gelegenheit, Überlegungen zu den Unterschieden und Ähnlichkeiten des braunen und des roten Totalitarismus anzustellen. Ich nehme nicht an, daß ND-Leser von mir erwarten, die Streitfragen und Diskussionen um das »Schwarzbuch«, wenn auch nur kurz, zu behandeln. Trotzdem drängen sich einige Fragen auf. So zum Beispiel die einfache Frage, welcher Totalitarismus »schlechter« und welcher »besser« war Wenn auf das Konto des deutschen Faschismus »lediglich« 25 Millionen Opfer kommen, auf das des Kommunismus jedoch 85 Millionen, so dürfte klar sein, welcher der »bessere« war Ich werde auf diese Frage aber noch einmal zurückkommen.

Für Menschen meines Schlags, die sich 1945 freiwillig, ohne Zwang, unter das Banner der gesellschaftlichen Revolution begaben und für die die Sowjetunion, bis zu einem bestimmten Zeitpunkt, Inspiration und Beispiel war, während die kommunistische Ideologie als Theorie betrachtet wurde, die später, in ferner Zukunft, eine neue, wunderbare Welt erschaffen sollte, für Menschen meines Schlags ist die wichtigste Frage die Bestimmung des eigenen Standpunktes gegenüber den Verbrechen, die von den kommunistischen Regierungen verübt wurden. Dies ist jedoch ohne eine Stellungnahme zu den Verfassern des »Schwarzbuchs des Kommunismus« nicht möglich.

Wesentlich ist dabei die Beantwortung der Frage, ob diese Verfasser Gegner der kommunistischen Ideologie sind oder ob sie zur Kategorie von Antikommunisten gehören, die sich aus den verschiedensten Gründen bemühen, von den Rechten dieser Welt die Höchstnote für die Verurteilung einer gesellschaftlichen Formation zu erhalten, die mehr als 70 Jahre übermächtig die Entwicklung der Welt beeinflußt hat.

Mein Eindruck ist, daß dieser zweite Grund für sie sehr wichtig ist. Ein Verbrechen bleibt selbstverständlich ein Verbrechen, beim Studium des Buches kann ich mich jedoch des Eindrucks nicht erwehren, daß wir es hier mit einem Werk zu tun haben, das von Geschichtsbuchhaltern, nicht aber von Historikern geschrieben 'wurde, die die Revolution in ihrer ganzen Komplexität erfassen.

Gemischte Gefühle habe ich auch gegenüber dem Verfasser des Vorworts, dem ehemaligen Maoisten Stephane Courtois. Vor einigen Monaten erteilte er einer rechten polnischen Zeitung ein Interview, in dem er sich regelrecht unsinnig über das Polen der 80er Jahre äu-ßerte. Er phantasierte geradezu. General Jaruzelski, der nach seiner Meinung »von Moskau ausgebildet« wurde und »unstrittig ein indirekter Agent der Sowjets« war, stellte er Dubcek entgegen, der 1968 »unter Einsatz seines Lebens« kämpfte und die Sowjets nicht um Intervention bat, sondern »im Gegenteil versuchte, so weit wie möglich in Richtung Demokratie zu gehen«.

Abgesehen davon, daß sich Jaruzelski mit einer solchen Bitte an Moskau nicht gewandt hat, sollte daran erinnert werden, daß durch den Einmarsch der Truppen des Warschauer Vertrages die» Regierungszeit der Dogmatiker um 21 Jahre verlängert wurde, während Jaruzelski als Begründer des Runden Tisches in die Ge-

schichte eingegangen ist, der den Niedergang des real existierenden Sozialismus und sowjetischen Kommunismus einleitete.

Polen, so Courtois weiter, ist »die europäische Nation, die am meisten unter dem Kommunismus gelitten hat«. Ausgerechnet Polen! Er empfahl außerdem, ca. 30 ehemalige Vertreter der kommunistischen Regierung vor Gericht zu stellen. Um ein Wort von Adam Michnik zu gebrauchen, Courtois erscheint mir als ein »Höhlen-Antikommunist«, was in gewissem Maße dazu zwingt, einen kritischen Blick auf die Konzeption zu werfen, die dem »Schwarzbuch« zugrunde liegt. Die Zahlen sind erschreckend, über die von den Verfassern angewandten Kriterien, die recht verworren sind, läßt sich jedoch schon streiten. Kann man beispielsweise die Opfer des Bürgerkriegs in Rußland zu den »Massenverbrechen« zählen?

Anlaß zu Zweifeln bietet auch die The-

se vom kriminogenen Charakter des Kommunismus. Überall dort, wo kommunistische Parteien an die Macht kamen, schreibt Courtois in seinem Vorwort, »sind Massenverbrechen zu einem Bestandteil des Systems geworden«. Dies stimmt nicht, nicht überall. Ich kenne die Nachkriegsgeschichte Polens ziemlich gut und kann in ihr beim besten Willen keine Massenverbrechen als dauerhaften Bestandteil des Systems erkennen. Das heißt nicht, daß in den ersten Nachkriegsjahren, als in Polen zum Beispiel Elemente eines Bürgerkriegs auftraten, oder später in den Jahren des Stalinismus keine unschuldigen Menschen ums Leben kamen. Dies war so, und zwar nicht nur in Polen. Es bedeutet aber nicht, daß die Einschätzung von Courtois richtig ist.

Die von ihm verwandte Verallgemeinerung führt dazu, daß der gesellschaftliche Hintergrund, die kulturellen und politischen Traditionen des betreffender! Landes außer acht gelassen oder unterschätzt werden, vor allem jedoch lenkt sie von den grundsätzlichen Problemen ab, das heißt den historischen, ideologischen und sonstigen Gründen, die dazu geführt haben, daß die Bolschewiki unter Lenins Führung den Weg des Aufbaus eines totalitären Systems beschriften, das dann im Großen Sprung und der Großen Kulturrevolution im China Mao Tse Tungs sowie dem Völkermord Pol Pots gipfelte.

Selbst die erdrückendsten Zahlen können jedoch die Frage nicht beantworten, warum sich der Stalinismus in seiner reinen Form solange in der Sowjetunion hai-

ten konnte und warum so viele hochgebildete Menschen jahrzehntelang das »Vaterland des Weltproletariats« unterstützten, ein Vaterland der Gulags und der gnadenlosen Abrechnung mit allen tatsächlichen und imaginären Feinden des Kommunismus. Die Verwendung von Zahlen mit Beispielen für die Methoden, mit denen Millionen von Menschen vernichtet wurden, ist grauenerregend. Ist es jedoch weniger grauenerregend, wenn 750 000 Serben vom Regime des Ante Pavelic, des Führers des kroatischen Staates während des Zweiten Weltkriegs, ermordet wurden?

Der einzelne Mensch steht den Massenverbrechen und dem Völkermord ratlos gegenüber Dies gilt sicher auch für die Verfasser des »Schwarzbuchs«. In ihrer Ratlosigkeit fanden sie einen Ausweg: Sie stellten die stalinistischen Verbrechen in eine Reihe mit dem Völkermord aus rassistischen Gründen, indem sie zwischen Faschismus und Kommunismus

ein Gleichheitszeichen setzten. War dies nur Ratlosigkeit?

Zwischen dem totalitären Charakter des faschistischen und des kommunistischen, das heißt, genauer gesagt, stalinistischen Staates bestand kein Unterschied. Auch in bezug auf das endgültige Ziel gab es keine Unterschiede. Sowohl der deutsche und italienische Faschismus als auch der leninsche, stalinsche und maoistische Kommunismus wollten einen neuen Menschen und damit eine neue Gesellschaft schaffen.

Selbst erdrückendste Zahlen können die Frage nicht beantworten, warum sich der Stalinismus in reiner Form solange in der Sowjetunion halten konnte una warum so viele hochgebildete Menschen so lange das »Vaterland des Proletariats« unterstützten.

menten zu säubern sei. Der Feind wurde nur teilweise im Innern gesehen, gefährlich war der äußere Feind, der einen demoralisierenden Einfluß auf das gesunde deutsche Volk ausüben, die germanische Rasse verunreinigen konnte und so weiter. Sein Name war Jude, das internationale Judentum, das jüdische Finanzkapital etc.

Die Endlösung der Judenfrage war ein perfekter Völkermord, der uns bis heute durch seine regelrecht ungewöhnliche, kühle, leidenschaftslose Perfektion entsetzt. Der rassistische Wahn machte bei den Juden nicht halt. Zigeuner, Slawen, Polen und Russen gehörten zu den Untermenschen. Es besteht kein Zweifel daran, daß bei einem Sieg des faschistischen Deutschlands die Völker Ost- und Mitteleuropas dezimiert worden wären. Der Rassismus konnte mit der Vernichtung der Juden nicht zu Ende sein.

Der Hitlersche Rassismus richtete sich nach außen, gegen fremdstämmige Völ-

ker Die Deutschen, die Bürger des Dritten Reiches waren, bedrohte er nicht. Selbstverständlich ging der totalitäre Staat Hitlers repressiv gegen die Gegner des Faschismus - die Kommunisten, Sozialdemokraten und Liberalen - vor, die er oftmals prophylaktisch in Konzentrationslagern unterbrachte. Trotzdem ist das Ausmaß dieser Repression im Vergleich zu den Repressalien gegenüber dem äußeren Feind verschwindend gering. Ein Bürger des Dritten Reiches, der sich loyal gegenüber Staat und NSDAP verhielt, brauchte sich um Leben und Zukunft keine Gedanken zu machen.

Der sowjetische Kommunismus unterschied sich programmatisch vom Faschismus. Er verkündete keinen Rassismus, sondern die Gleichheit aller Menschen, unabhängig von Hautfarbe, Nationalität und Glauben. Er kündigte den Kampf gegen nationale Unterdrückung und gegen alle Formen der Diskriminierung an. Er proklamierte die Gleichheit, Freiheit und Unabhängigkeit und versprach die Verwirklichung der uralten Ziele, die die Menschheit seit Beginn ihrer Geschichte anstrebt. Gerade diese hehren Losungen verführten nicht nur die größten geistigen Koryphäen des 20. Jahrhunderts, sondern auch einige Generationen der Linken, die mit Stolz von sich sagten: Wir Kommunisten!

Die Unterschiede im Programm sind nicht die einzigen zwischen dem Faschismus und dem Kommunismus leninscher und vor allem stalinscher Prägung. Der Stalinismus sah die größte Gefahr für den Kommunismus im inneren Feind,

in der eigenen Gesellschaft. Der Terror gegenüber den »Volksfeinden« war allumfassend. Niemand hatte auch nur die geringste Sicherheit, daß er sich außerhalb seiner Reichweite befinden könnte. Die Ungewisse Zukunft im Sinne einer physischen Bedrohung wurde zu einem immanenten Merkmal der sowjetischen Gesellschaft. Das Phänomen des Stalinismus ist erstaunlich, wenn man bedenkt, daß er auf einer ungeheuerlichen Lüge aufgebaut ist und über eine Armee von Gelehrten verfügte, die schließlich weder blind noch taub waren und die trotzdem die Überlegenheit der »sowjetischen Demokratie« über jede andere predigten.

Zu einem ironischen Lächeln veranlaßte mich der Artikel irgendeines sowjetischen Philosophen, der noch in den 70er Jahren schrieb, daß die sowjetische Gesellschaftsordnung die demokratischste der Welt sei, weil jeder siebente Bürger der UdSSR ein Leiter ist. Und was kann man dazu sagen, daß eine Frau, .die 16 Jahre im Gulag verbrachte und 1961 zum Parteitag der KPdSU kam, als erstes zum Mausoleum von Lenin und Stalin ging, um einen Blumenstrauß an den Gebeinen der Revolutionsführer niederzulegen? Nein, weder die erschrekkenden Zahlen des »Schwarzbuchs« noch die Reduzierung der Geschichte des Kommunismus auf Methoden, die an die Me-

thoden der Faschisten »stark erinnerten« (Courtois), führen uns näher auf den Grund der Wahrheit, warum sich viele Millionen Menschen im gigantischen Ausmaß durch verbrecherische Systeme haben verführen lassen.

Es ist zu bezweifeln, daß das nächste Jahrzehnt eine Antwort auf viele der Fragen bringen wird, denen wir heute noch ratlos gegenüberstehen. Die Forschungen über den Kommunismus tragen heute meistens den Stempel politischer Nützlichkeit, deren Ziel darin besteht, die Linke der Welt so zu unterdrücken, daß sie sich nie wieder erheben kann, oder aber diese Forschungen befinden sich in der Hand von »Höhlen-Antikommunisten«, wodurch ein Minimum an Objektivität von vornherein ausgeschlossen ist.

Es werden noch Jahre vergehen müssen, bevor tiefgründigere Analysen der kommunistischen Utopie, die bereits beim Beginn deformiert war, erscheinen. Dies stelle ich schweren Herzens fest, da ich mich, ähnlich wie Millionen junger Menschen, von den ach so schönen Losungen der Kommunisten habe verführen lassen. Heute kann ich nur sagen: Hätte ich das Ausmaß der stalinistischen Verbrechen gekannt, hätte ich mich sicher nicht unter dem Banner des Kommunismus wiedergefunden. Man muß nicht Kommunist sein, um im Geiste des Fortschritts zu denken und zu handeln.

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