Vom Schwarm in Bewegung gehalten

  • Anja Mayer und Jörg Schindler
  • Lesedauer: 6 Min.

11,9 Prozent. Diese Zahl wird in Diskussionen der Linkspartei eine immer größere Rolle spielen, je näher die Bundestagswahl rückt. Aus Sicht der Parteimitglieder wird dies ein magischer Punkt aller Debatte werden: Werden „wir" wieder ähnlich stark wie 2009? Und wenn nein, weshalb nicht? Daraus folgend: Wer trägt bei Misserfolg die Schuld? Und welche Konsequenzen folgen hieraus? Qua Wahl durch die Zahl der Gewählten, parteiintern durch Kräfteverschiebungen. Soweit die Innensicht.


Aus dieser Froschperspektive bleibt wesentliches unberücksichtigt. 11,9 Prozent war vor allem eine WählerInnenbewegung – oder eben, wie eine Quellpartei der LINKEN auch namentlich markierte: eine Wahlalternative. Über sie vollzog sich die frustrierte Abkehr sozialdemokratischer Milieus von der SPD in die Wahlenthaltung oder – geringer – zur LINKEN. Das Ergebnis entsprach keinesfalls dem tatsächlichen Protestniveau im Lande. Es fehlten Erfahrungen radikal vorgetragenen Protests, in Inhalt und Form. Während in anderen europäischen Ländern nach "Reformen" wie Reallohnsenkung und Rentenkürzungen die Hütte brennt, kamen selbst 2004 beim Frontalangriff der schröderianischen neuen Sozialdemokratie auf den Sozialstaat die sozialen Bewegungen kaum über Massenkundgebungen am gewerkschaftlichen Bockwurststand hinaus.


Kein „Kurs halten" beim Bockwurststand


2009 noch als Aufbruch gefeiert, ist die Linkspartei nun entzaubert. Zum einen agiert sie nach Spießermanier mit Satzungs- und Geschäftsordnungsdebatten, so sinnvoll diese auch manchmal seien. Die Kehrseite ist allerdings, dass diese Debatten ausschließend wirken und hinderlich in der Organisation sozialer Proteste sind. Prinzipiell sind Parteien starre Organisationen, die mit modernen Formen gesellschaftlichen Austauschs häufig nicht Schritt halten, Eruptionen des Protests nur schwer nach vorn bringen können.

Zum anderen ist es der Linkspartei programmatisch nicht gelungen, angemessen auf die neuen Entwicklungen zu reagieren. In der sich seit 2008 stetig ausweitenden Finanzkrise wirkt DIE LINKE etwas hilflos. Kurz: Die Bäume der Linkspartei wuchsen nicht in den Himmel, ihre Zustimmungswerte stagnierten und gingen unter dem Dogma „Kurs halten" sogar fast existenzgefährdend zurück. Als Reinkarnation der klassischen Sozialdemokratie war sie zwar die richtige Reaktion auf Gerhard Schröders Neue Mitte in der Endphase des althergebrachten Neoliberalismus, jedoch hat sie auf die supra-staatsinterventionistischen Formen von Bankenrettung, Schuldenbremse und Rettungsschirmen, dem „halbautomatischen Staat", bisher nur vorläufige Antworten gefunden. Nur mühsam hat DIE LINKE nach Göttingen überhaupt „die Kurve gekriegt".


Um die Gewerkschaftsausrichtung kämpfen


Hinzu kommt: Die Krise entäußert sich in der Bundesrepublik anders als in Südeuropa. Im Exportweltmeisterland beherrscht Merkels Krisendeutung, die anderen EU-Länder gierten nach deutschem Steuergeld, durchaus die Köpfe. Selbst mitten durch die Gewerkschaften geht diese Lesart, vor allem bei den korporatistischen Flügeln der Exportgüter-Gewerkschaften IG Metall und IG BCE. Die Exportüberschüsse der Vergangenheit waren nur möglich, weil im Ausland deutsche Waren gekauft werden konnten – mit der Folge der Verschuldung in diesen Ländern. Gleichzeitig zahlten deutsche Beschäftigte dies durch Dumpinglöhne, mit Unterstützung von Teilen der Gewerkschaft.

Das Monopolyspiel, das Merkel und die deutsche Exportwirtschaft mit den anderen EU-Ländern spielen, erlaubt aber nicht, dass alle Spieler gleichzeitig die Schlossallee-Karte vor sich liegen haben können. Um so wichtiger ist es deshalb, gemeinsam mit der Gewerkschaftslinken, um eine Zukunft mit ausgeglichenen innereuropäischen Zahlungsbilanzen und einem kohärenten EU-Sozialsystem zu ringen, damit die Mietpreise in allen Straßenzüge ungefähr gleich hoch werden und alle Spieler eine faire Chance haben, sich im Spiel zu halten.


Was folgt daraus?

Erstens: Massenproteste sollten – anders als in anderen EU-Ländern – derzeit im Krisengewinnerland realistisch weder erwartet noch ihr Ausbleiben frustriert beklagt werden. Billige Marktschreier-Parolen zur Krise, Palavereien über „Zocker" oder „Spekulanten", gar die Reorientierung auf den deutschen Sozialstaat und D-Mark sind fehl am Platz. Zunächst ist es vielmehr Zeit für die Kärnerarbeit der mühseligen Aufklärung über die ökonomischen Wirkungsweisen der Krise. Mit Bernd Riexingers Anwesenheit auf dem Syntagma-Platz gelang es eine "europäische Öffentlichkeit" zu erzeugen und einen symbolischen Schritt über die Grenze zu gehen - hin zu einer handlungsfähigen Konföderation fortschrittlicher europäischer Linksparteien mit gemeinsamer Programmatik.


Zweitens: Aus Post-SED und Ex-SPD sollte sich zügig eine „neue LINKE" entwickeln. Das heißt, die Partei weiter aus Starrheit und selbstbezüglicher Sitzungskommunikation zu befreien, für transnationale soziale Bewegungen ebenso zu öffnen, wie für kommunalpolitische Initiativen. Wichtig erscheint uns, das Verhältnis der Aktivität der Mitglieder in Parteigremien gegenüber der Aktivität in Initiativen deutlich umzukehren. Die häufig diskutierte Frage, ob die Partei dieses oder jenes Bündnis unterstütze, würde damit obsolet werden, weil sie schlicht durch ihre dort aktiven Mitglieder bereits beantwortet ist.

Umgekehrt bedeutet dies allerdings, an die Adresse der AkteurInnen sozialer Bewegungen, die Rolle der Parteien nicht fehlzugewichten: Sie sind weder Borg, die alles assimilieren, noch unerheblich. Denn wenn die Urform der Parteienkritik meint, dass Politik generell organisiert wird, kritisiert sie immanent paradox, da jede Partei- und Organisationsform eine Verletzung direkt-demokratischer idealer Vorstellungen ist. Sollen aber Menschen in die demokratischen Prozesse (wieder)einbezogen werden, führt auch an der Parteiform kein Weg vorbei.

Drittens muss DIE LINKE neue Beteiligungsformen erproben. Die moderne Arbeitswelt, aber auch die neoliberale Zumutung von Flexibilität, macht vielen die Beteiligung in Ortsvereinen und Gremien unmöglich. Kommunikation und Beteiligung der Mitglieder und Interessierter erfordert daher auch eine Veränderung der Partizipationsformen, etwa durch thematische oder berufsbezogene Initiativgruppen statt regionaler Basisorganisationen. Die dänische Linkspartei SF beispielsweise beteiligt regelmäßig ihre gesamten Parteimitglieder an Beschlusslagen durch Internetabstimmungen und -befragungen. Analoges gilt für die Arbeit von gewählten MandatsträgerInnen. Wesentliche parlamentarische Entscheidungen der Partei werden an thematische Ratschläge und Voten aus dem außerparlamentarischen Raum, der unsere Positionen tragenden oder nahe stehenden Bündnisse, Aktiven und Initiativen gekoppelt, ggf. durch die Verknüpfung mit kurzzeitigen Ein-Punkt-Kampagnen.

Letztendlich steht dieser demokratischen Bewegungspartei das Mutterschiff-Beiboote-Bild Pate: DIE LINKE als koordinierende und stabilisierende, ideologisch impulsgebende und aufklärerische Komponente in einem Schwarm kleiner thematisch flexibler schneller Beiboote, die sie in Bewegung halten.




Anja Mayer studiert Soziologie mit den Schwerpunkten politische Soziologie und Gender Studies in München. Jörg Schindler ist Rechtsanwalt und Redakteur des Magazins „Prager Frühling", das im Umfeld der Emanzipatorischen Linken erscheint.

In der nd-Debatte zur Zukunft der Proteste gegen die Krisenpolitik hat Ingo Stützle von analyse & kritik
dafür plädiert, nicht auf die Politik zu setzen, und die gesellschaftliche Linke aufgerufen, eine Debatte über mehr Selbstermächtigung zu führen, die nicht auf Parteien udn parlamente fixiert ist. Werner Rätz von Attac meint, Blockupy und Umfairteilen haben Anfänge gemacht. Doch die Bewegungen scheitern immer wieder am mangelnden Verständnis der Radikalität der kapitalistischen Krise
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