»Smolensker Fieber« auf Höchststand
31 Monate nach dem Absturz der Tu-154 hat die Hysterie der Rechten in Polen kein Ende
Das seit 31 Monaten anhaltende »Smolensker Fieber« trieb auf seinen Höchststand zu, als die Zeitung »Rzeczpospolita« vor einer Woche auf ihrer Titelseite den Artikel eines bisher lediglich mit religiösen Themen beschäftigten Journalisten veröffentlichte: Da hieß es, am Wrack des bei Smolensk am 10. April 2010 verunglückten Flugzeugs, in dem 96 Menschen, darunter Polens Staatspräsident Lech Kaczynski, ums Leben gekommen waren, seien Spuren von Sprengstoff entdeckt worden. Experten hätten für den Fund bisher keine Erklärung, möglicherweise handle es sich aber auch um TNT- und Nitroglyzerinreste von Bomben aus dem Zweiten Weltkrieg, die nach wie vor in dem Gebiet lägen.
Diese Erklärung akzeptierte der Bruder des verunglückten Präsidenten - Oppositionsführer Jaroslaw Kaczynski - indes nicht. Vielmehr sah er es nunmehr als erwiesen an, dass Lech Kaczynski und 95 weitere Mitglieder der polnischen Elite Opfer eines Anschlags geworden sind. Die Maschine sei kurz vor der Landung beim Anflug explodiert. Durch die Spuren von explosivem Material an Sitzen und Tragflächenresten sei die These seines Parteifreundes Antoni Macierewicz bestätigt, wonach die Katastrophe auf ein von Polens Premier Donald Tusk und Russlands starkem Mann Wladimir Putin geschmiedetes Komplott zurückzuführen ist.
Ohne diese Namen zu nennen, führte Jaroslaw Kaczynski aus, dass ein »unerhörtes Verbrechen« geschehen sei. Es dürfe nicht sein, sagte er, dass in Polen Menschen regieren, die sich bei derart schweren Verbrechen über 30 Monate lang in Lügen verstricken.
Die Militärstaatsanwaltschaft wies die Angaben der »Rzeczpos-polita« über den Fund von Sprengstoffspuren zwar umgehend und entschieden zurück. Die Zeitung entschuldigte sich ziemlich verschwommen: »Wir haben einen Fehler gemacht, als wir über TNT und Nitroglyzerin geschrieben haben. Es hätten diese Komponenten sein können, aber dem war nicht so.« Schließlich stellte Chefredakteur Tomasz Wróblewski seinen Posten zur Verfügung. Doch das alles wollte Kaczynski, Chef der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), nicht gelten lassen.
Premier Donald Tusk erklärte kurz, Jaroslaw Kaczynski zerstöre den Staat. In der regierenden Bürgerplattform (PO) sieht man den PiS-Chef an »die Wand des Absurden« getrieben. Aus der Bauernpartei PSL, Koalitionspartner der PO, heißt es, die Rechte wolle den Staat in die Luft jagen. Auch Altpremier Tadeusz Mazowiecki sieht in Kaczynskis Äußerungen einen »Aufruhr gegen den Staat«. Und sogar manche PiS-Anhänger äußern Sorge um den Geisteszustand ihres Chefs. Das Schlimme bei all dem ist aber, dass nach Erhebungen etlicher Institute 30 Prozent der Polen die Meinung von einem »Smolensker Anschlag« teilen. Sie trauen weder dem polnischen Untersuchungsbericht vom Juli 2011, der den Absturz der Tu-154 in dichtem Nebel auf eine mangelhafte Ausbildung der Besatzung zurückführte, noch den russischen Ermittlern, die den »psychologischen Druck« hervorhoben, der die Crew zur Landung unter schwierigen Bedingungen veranlasst habe. Dem Beobachter drängt sich ein Vergleich mit der in Deutschland seinerzeit so weit verbreiteten »Dolchstoßlegende« auf.
Schon einmal, im Jahre 1996, unternahm Polens Rechte mit absurden Behauptungen den Versuch, die Regierung zu stürzen. Damals, als der linke Regierungschef Józef Oleksy beschuldigt wurde, enge Kontakte mit einem »Moskauer Spion« zu pflegen, gelang ihr das. Jetzt, so scheint es, haben sich die Regierungsgegner aus dem rechtsnationalen Lager - und vor allem ihr Führer - kaputtmanipuliert. Zweifellos werden sie ihren Spuk aber am 11. November fortsetzen. Denn anlässlich des polnischen Nationalfeiertags sind in Warschau große Demonstrationen angesagt.
Der polnische Romantiker Cyprian Norwid nannte den November »eine für Polen sehr gefährliche Jahreszeit«.
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