Immer mehr Fordern, immer weniger Fördern
SPD und Grüne gehen mit Wahlkampfbeginn auf leichte Distanz zur Sanktionspraxis gegen Langzeitarbeitslose / LINKE lehnt Strafen ab
Fälle wie dieser sind keine Seltenheit: Ein Erwerbsloser, der jahrelang mit Computern beschäftigte war, wird von seinem Arbeitsamt in einen Kurs gedrängt, in dem Menschen ohne Arbeit die Grundlagen der Computernutzung beigebracht werden soll. Der Mann bleibt der für ihn überflüssigen Maßnahme fern, worauf das Jobcenter sein Arbeitslosengeld für drei Monate komplett streicht.
So berichtete vor wenigen Tagen in der Wochenzeitung »Jungle World«. Allein von August 2011 bis Juli 2012 verhängten die Jobcenter erstmals in mehr als einer Million Fälle Strafen gegen die Bezieher des Arbeitslosengelds II. Dass die Zahl der Kürzungen trotz zurückgehender Erwerbslosigkeit steigt, führt die Bundesagentur unter anderem auf die »konsequentere und professionellere Arbeit« der Ämter zurück, wie es eine Sprecherin der Nürnberger Behörde formuliert.
Martin Behrsing, Sprecher des Erwerbslosen Forum Deutschland, findet andere Worte: Er sehe in der zunehmenden Zahl von Kürzungen eine »blinde Sanktionswut«, Strafen würden »aufgrund der unwürdigen Gesetzeslage fast schon automatisch verhängt« - und das oft genug auf fragwürdiger juristischer Grundlage. Man wisse aus eigener Erfahrung, so Behring, »dass kaum eine Sanktion Bestand hat, wenn wir uns damit rechtlich auseinandersetzen«.
Inzwischen mehren sich auch bei SPD und Grünen, die mit dem Agenda-Prinzip des »Förderns und Forderns« die Grundlage für die Hartz-Sanktionen schufen, kritische Stimmen. Die sozialdemokratische Generalsekretärin Andrea Nahles beklagte unlängst, offenbar stehe »nur noch das Fordern im Mittelpunkt«, immer größerer Druck auf Erwerbslose schaffe »aber keine neuen Arbeitsplätze«. Und die Grünen nahmen bei ihrem letzten Bundesparteitag in Hannover die Forderung nach einer Aussetzung der Sanktionen auf ihren Zettel: Erst im Zuge einer gründlichen Reform des Hartz-Systems sollten Kürzungen in begründeten Fällen wieder möglich sein, nicht jedoch eine auf »Bestrafung und Demütigung« basierende Praxis.
Im vergangenen Jahr scheiterten freilich alle Vorstöße im Bundestag - und das nicht nur an der schwarz-gelben Regierungsmehrheit. Auch die SPD hat bisher, wenn es darauf ankam, eine Abkehr vom Sanktionsregime verweigert. Politischen Initiativen über Parteigrenzen hinweg, wie etwa das Bündnis für ein Sanktionsmoratorium, fehlte die sichtbare Unterstützung einer sozialen Bewegung. Ansätzen linker Gruppen, Erwerbslosen direkten Beistand beim Gang in die Jobcenter anzubieten, blieb eine größere öffentliche Wirkung verwehrt.
Ob sich das im Wahlkampf noch einmal ändert, bleibt abzuwarten. Schwarz-Gelb sieht im »Einfordern von eigenen Anstrengungen« eines der »Grundprinzipien bedarfsabhängiger und am Fürsorgeprinzip orientierter Sozialleistungen« und behauptet, dies sei auch »gesellschaftlich anerkannt«. Immer wieder bemühen sich allerdings Kritiker, über Petitionen auf Landes- und Bundesebene gegen Hartz-Sanktionen zu mobilisieren. Die Linkspartei hat die Abschaffung der Sanktionen als ein Element eines möglichen Einstiegs in »eine machbare andere Politik« in ihrem Wahlprogramm-Entwurf aufgeführt. Mit einer SPD unter Peer Steinbrück? Sie, zeigte sich am Sonntag in einem Radiointerview die LINKEN-Vorsitzende Katja Kipping skeptisch, könne sich das schwerlich vorstellen mit einem »Mann, der nach wie vor weiterhin Hartz-IV-Sanktionen richtig findet«.
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