Wahlen in Zeiten der Krise
Ausgang der Abstimmung in Italien ist völlig offen
»Die Wahlen in den Zeiten der Krise«: Das könnte - frei nach Gabriel Garcia Marquez - der Titel für die Wahlen am Wochenende in Italien sein. Die tiefe Wirtschaftskrise, in der Italien steckt, ist der Hauptdarsteller der Wahlkampagne. Denn dass sich das Mittelmeerland in einer verheerenden Lage befindet, die sich auf alle Bereiche des sozialen Lebens auswirkt, streitet heute niemand mehr ab - nicht einmal Silvio Berlusconi, der bis vor einem Jahr gebetsmühlenhaft wiederholte, Italien gehe es hervorragend und die Krise sei nur eine böswillige Erfindung linker Medien und Parteien.
Die Gewerkschaften haben ausgerechnet, dass mindestens neun Millionen Italiener große Probleme in der Arbeitswelt haben: Es sind nicht nur die Arbeitslosen, sondern auch diejenigen, die auf Kurzarbeit gesetzt wurden, prekäre Arbeitsverhältnisse haben, Schein-Selbstständige sind oder weit unter ihrer Qualifikation arbeiten. Am schwersten trifft es Jugendliche und Frauen. Hinzu kommt, dass Staat und Kommunen die sozialen Dienstleistungen dramatisch zusammengestrichen haben und nun vor allem die Frauen an ihre Stelle treten.
Insgesamt 51 Millionen Italiener sind am Sonntag und Montag zur Wahl ihres neuen Parlaments, das sich aus zwei Kammern (Abgeordnetenhaus und Senat) zusammensetzt, aufgerufen. Es handelt sich um vorgezogene Neuwahlen, da der letzte Ministerpräsident Mario Monti im Dezember zurückgetreten war, nachdem ihm Silvio Berlusconis »Volk der Freiheit« (PdL) die Unterstützung entzogen hatte.
Insgesamt sind 184 Listen bei den Wahlen zugelassen, von denen nur ein Bruchteil in den Kammern vertreten sein wird. Das Wahlsystem gilt im negativen Sinne als einzigartig in Europa. Es wurde 2005 von der rechten Koalition verabschiedet. Der Wähler kann nur eine Partei wählen, diese bestimmt durch den Listenplatz, wer ins Parlament kommt. In die Kammer kann nur eine Partei Vertreter entsenden, die mindestens vier Prozent der Stimmen erhält. Die relative Mehrheitspartei bekommt einen »Bonus«, der ihr automatisch die absolute Mehrheit der Abgeordneten (340 von 630) sichert.
Im Senat wird dieser Bonus auf regionaler Ebene verteilt und richtet sich nach der Bevölkerungszahl der einzelnen Regionen. So kann es dazu kommen, dass eine Partei auf nationaler Ebene die Mehrheit hat, nicht aber im Senat. Deshalb gilt die Wahl in der Lombardei als besonders wichtig. Diese Region stellt allein 49 von 315 Senatoren. Anna Maldini
Das alles wirkt sich auch auf die Wahlen aus. Wenn man die Demokratische Partei (PD) ausnimmt, hat sich das politische Gefüge im Land stark gewandelt. Berlusconis »Volk der Freiheit« (PdL) hat sich gespalten und nur zum Teil wieder zusammengefügt. Im Zentrum hat der noch amtierende Ministerpräsident Mario Monti alles an sich gerissen und versucht, die »moderaten Kräfte« um sich zu sammeln. Am ultrarechten Rand wurden die »Faschisten des 3. Jahrtausends« (so nennen sie sich selbst) als »Casa Pound« zugelassen. Links formierte sich die neue Gruppierung »Zivile Revolution« um den ehemaligen Anti-Mafia-Staatsanwalt Antonio Ingroia.
Dann ist da noch die »Bewegung der Fünf Sterne« des ehemaligen Komikers Beppe Grillo. Diese Formation ist wahrscheinlich der klarste Ausdruck dafür, dass es sich hier um »Wahlen in den Zeiten der Krise« handelt. Mit jedem Tag nimmt die Anhängerschaft Grillos zu. Inzwischen ist nicht mehr auszuschließen, dass die »Bewegung« aus dem Stand ganz nach oben springt: Die verschiedenen Umfragen (offiziell dürfen keine mehr veröffentlicht werden, doch im Internet zirkulieren viele, deren Wahrheitsgehalt nicht nachprüfbar ist) sehen sie zwischen 15 und 30 Prozent.
Für die anderen Parteien sehen die Prognosen folgendermaßen aus: Die PD (zusammen mit Nichi Vendolas Linke, Ökologie und Freiheit - SEL) könnte mit etwa 35 Prozent stärkste Kraft werden; Berlusconi liegt mit seinen Partnern von der Lega Nord bei 30 Prozent; Monti und sein Zentrum bei 10 Prozent; für Ingroia geht es darum, die Vier-Prozent-Hürde zu nehmen.
Die Krise steht auch im Mittelpunkt der Wahlversprechen. Monti, von dem viele sagen, er sei der »Sonderbeauftragte« der Großbanken und der Hardliner in der EU, erklärt, sein drastischer Sparkurs mit einer Anhebung des Rentenalters und der Steuern vor allem für die »Kleinen« habe Erfolg gezeigt. Jetzt sei es Zeit, an Wachstum zu denken. Berlusconi setzt nach altbekannter Manier auf haltlose Versprechungen: Steuergelder zurück an die Bürger, vier Millionen neue Arbeitsplätze und alles in allem ein Leben im Wohlstand. Die Demokraten setzen vor allem auf die Schaffung von Arbeitsplätzen und soziale Sicherung, ohne aber konkrete Zahlen zu nennen. Auch Grillo verspricht viel: Er will Italien umkrempeln, Mafia und Korruption besiegen und die alternativen Energien so weit entwickeln, dass in zehn Jahren keine Pkw mehr mit Benzin auf den Straßen Italiens fahren.
Vor diesem Hintergrund ist das Wahlergebnis völlig offen. Das macht weniger den Italienern als ausländischen Politikern, allen voran den deutschen, Angst. Die Bundesregierung äußerte sich in Gestalt von Außenminister Guido Westerwelle und Kanzlerin Angela Merkel gleich mehrmals. Man wolle sich nicht einmischen, aber »die Reformen, die Italien in den letzten Monaten auf den Weg gebracht hat, haben Italien weltweit viel Vertrauen zurückgebracht«, so Merkel. Das schlimmste Szenario ist eine Rückkehr Berlusconis. Er habe »Italien schon mal durch unverantwortliches Regierungshandeln und persönliche Eskapaden ins Trudeln gebracht«, warnte EU-Parlamentspräsident Martin Schulz. Am wahrscheinlichsten ist momentan jedoch, dass die Demokraten den nächsten Ministerpräsidenten stellen werden. Sollten sie zu einer Koalition gezwungen sein, bieten sich Monti und Grillo an. In beiden Fällen wäre diese Regierung aber wohl so instabil, dass man Neuwahlen in einem Jahr nicht ausschließen kann.
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