Richter gucken erst mal Youtube
Erster Tag im Bonner Kundus-Prozess: Gericht schließt Ansprüche der Hinterbliebenen nicht aus
Als sich die Erste Zivilrechtskammer des Bonner Landgerichts unter Vorsitz von Heinz Sonnenberger gestern nach anderthalb Stunden Verhandlung vertagte, waren viele Fragen noch ungeklärt, eine indes nicht: Nein, das Gericht hält die Klagen von Angehörigen zweier Opfer des Bombenangriffs von Kundus gegen die Bundesrepublik Deutschland nicht von vornherein für aussichtslos.
Doch die Materie ist komplex: Wer hatte die Befehlsgewalt bei dem Angriff vom 4. September 2009? Wie viele Opfer sind zu beklagen? Sind die beiden Bonner Kläger - eine Art Vorhut für 77 weitere Hinterbliebene - tatsächlich klageberechtigt? Und ist die Bundesrepublik Deutschland, konkret: das Bundesverteidigungsministerium, der richtige Adressat der Klage? Opferanwalt Prof. Peter Derleder wertete es als Erfolg, dass das Gericht individuelle Opferansprüche nicht generell ausschließe. Sie könnten sich aus dem humanitären Völkerrecht ergeben, wobei indes auch das deutsche Staatshaftungsrecht eine Rolle spielen würde, so Richter Sonneberger. Gegebenenfalls ...
»Wir wollen nachweisen, dass Oberst Klein grob fahrlässig handelte«, betonte Karim Popal, der zweite Opferanwalt. Der deutsch-afghanische Jurist will auch Zeugen aus dem US-Militär befragen. Er erhofft sich so nachzuweisen, dass Klein, dessen Beförderung zum Brigadegeneral ansteht, Warnungen amerikanischer Militärs ignorierte. Stattdessen, so Popal, habe der Kommandeur der deutschen Truppen in Kundus auf die Aussagen eines dubiosen lokalen Informanten vertraut - die ihm durch einen namentlich noch unbekannten und gestern von Richter Sonnenberger fast schon ein wenig spöttisch »Hauptmann X« genannten Kameraden übermittelt wurden.
Klein hätte erkennen müssen, dass sich überwiegend Zivilisten um die beiden bombardierten Tanklastzüge scharten, findet Popal. Die Lkw seien festgefahren gewesen im Kundus-Fluss - weswegen, anders als von Bundeswehroffiziellen behauptet, von ihnen auch keine Gefahr für das sieben Kilometer entfernte deutsche Feldlager ausgegangen sei. Nicht zuletzt aber hätten die Zivilisten durch eine Machtdemonstration (»Show of Force«) in Form von Tieffliegern vor dem tödlichen Angriff gewarnt werden müssen. Nur so hätten sie Gelegenheit gehabt, sich vor dem mörderischen Angriff in Sicherheit zu bringen.
Ob ein beabsichtigter militärische Vorteil eine Gefährdung von Zivilisten gerechtfertigt hätte (die Zahl blieb gestern ungeklärt), stellte auch Richter Sonnenberger in Frage. Zudem ist für ihn von Bedeutung, ob Oberst Klein vorher erkennen konnte, dass er viele Zivilisten gefährdete. Klein pflegt zu argumentieren, er habe davon ausgehen können, ausschließlich Aufständische zu attackieren, darunter Taliban-Führer. Alles im olivgrünen Bereich also.
Doch hatte Klein überhaupt die Befehlsgewalt - oder hatte er das Bombardement nur gleichsam erbeten und handelte zudem nicht als Bundeswehr-, sondern als ISAF-Soldat, wie ein Vertreter des Bundesverteidigungsministeriums gestern argumentierte? Richter Sonnenberger deutete an, er tendiere dazu, in Klein einen deutschen Beamten zu sehen. Entsprechend wäre das Gericht zuständig und die Klage nicht unzulässig.
Manche Beobachter waren überrascht, weil das Gericht gestern keinen auf die Entschädigung der Hinterbliebenen bezogenen Vergleichsvorschlag unterbreitete - wie es in Zivilverfahren durchaus üblich ist, auch im Zuge des ersten Verhandlungstages.
Ob es eigentlich ein Youtube-Video von dem Kundus-Vorfall gebe, wollte Richter Sonnenberger noch wissen. Rechtsanwalt Popal nickte. Sonnenberger kündete an, sich das Video binnen der nächsten vier Wochen bei dem Online-Videodienst anschauen zu wollen. In den Akten befinde es sich nämlich noch nicht. Der Prozess wird am 17. April fortgesetzt.
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