»Gegen uns alle läuft 
ein Ermittlungsverfahren«

Die Bundesgeschäftsführerin der Piratenpartei, Katharina Nocun, im Gespräch über die 
Überwachung von Fußballfans und Normalbürgern – und die Zukunft nach der Bundestagswahl

  • Lesedauer: 16 Min.

nd: Frau Nocun, bei Ihrem Antritt als Bundesgeschäftsführerin der Piraten im Mai gaben Sie sich kämpferisch und spornten die Partei an, damit es mit dem Einzug in den Bundestag klappt. Meinungsforscher sehen die Piraten scheitern. Schaffen sie es noch?
Nocun: Wir merken zumindest, dass das Interesse an unseren Veranstaltungen im Wahlkampf viel größer ist als in den Monaten davor. Wir versuchen das zu nutzen, indem wir Themen in die Öffentlichkeit tragen, die sonst nur wenig Beachtung finden. Wir haben beispielsweise die Stärkung der Fanrechte beim Fußball als eigenen Punkt im Parteiprogramm stehen. Das wird tatsächlich von vielen Medien aufgegriffen, auch wenn unser Einsatz für die Legalisierung von Feuerwerkskörpern unter Auflagen dabei manchmal etwas ins Lächerliche gezogen wird.

Vielleicht, weil es ein Anliegen ist, das zunächst einmal nur Fußballfans freut, die mit Feuerwerkskörpern ins Stadion wollen. Und wer sich im Netz Amateurvideos von Krawallen bei oder nach Spielen anschaut sieht zudem schnell: Feuerwerkskörper kommen dabei gerne mal zum Einsatz, schüren Ausschreitungen und können Menschen verletzen.
Es heißt immer, dass von einer Stärkung der Fanrechte, wie wir sie fordern, nur Hooligans betroffen wären. Aber das stimmt nicht. Die Überwachungsmaßnahmen des Innenministeriums treffen längst ganz normale Menschen. Denn ein Fußballspiel – klar – ist erst einmal eine friedliche Sportveranstaltung, die in Deutschland von etwa 600.000 Menschen regelmäßig besucht wird. Zudem von Menschen ganz unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Herkunft - ein Querschnitt der Bevölkerung. Und die werden alle kontrolliert, überwacht und teilweise auch kriminalisiert. Das wollen wir begrenzen.

Die Vorwürfe der Piratenpartei sind auch im Fall Prism ganz ähnlich, nämlich dass durch das Spähprogramm potentiell jeder Internetnutzer überwacht wird. Da stellt sich die Frage: Wie wollen Sie stattdessen gegen Straftäter vorgehen?
Es ist wichtig, zwischen konkreten Ermittlungen und Überwachung zu unterscheiden. Zur Verfolgung von Straftaten sind konkrete Ermittlungen nötig und eben nicht die verdachtsunabhängige Überwachung von einer ganzen Gruppe von Menschen. Wir sehen das als eine Art Kollektivstrafe, die zudem Angst erzeugt. Denn niemand weiß, wer in die jeweiligen Raster fällt und…

Entschuldigen Sie, dass ich unterbreche: Inwiefern ist die Überwachung schon eine Bestrafung des Bürgers?
Ich habe im Kontext von Prism oft gehört, dass den Menschen ja eigentlich kein Schaden entstanden sei, von einer Strafe ganz zu schweigen. Ich sehe es im Gegenteil so, dass der gesamten Bevölkerung ein Schaden entstanden ist und auch eine Strafe gegen die ganze Bevölkerung verhängt wurde, da ein Ermittlungsverfahren gegen uns alle läuft, ohne das ein begründeter Verdacht vorliegt. In dem Moment nämlich, in dem Menschen sich nicht sicher sind, ob sie überwacht werden oder nicht, ändert sich ihr Verhalten. Weil sie sich plötzlich unsicher sind, was sie noch im Netz schreiben dürfen oder nicht. Das sehe ich als eine Art von Strafe, die dadurch entsteht, dass die Unschuldsvermutung durch die Verdachtsunabhängigkeit der Überwachung ausgehebelt wird. Das Problem ist eigentlich, dass in den vergangenen Jahren im Bereich zielgerichtete Ermittlungen und Prävention viel gespart und stattdessen – eben auch, weil das Internet es erlaubt – auf verdachtsunabhängige Überwachung gesetzt wurde. Aus unserer Sicht ist das der falsche Weg. Kriminalität ist doch etwas, dass in einem Rechtsstaat zielgerichtet verfolgt und bestraft werden muss. Das Ziel rechtfertigt nicht die momentan eingesetzten Mittel. Die gehören stattdessen in die Mottenkiste eines totalitären Regimes.

Der harmlose Orwell und eine tatenlose Regierung

»Prism«, »Tempora«, »XKeyscore«, nun »Bullrun« – sicher ist nur: Nichts und niemand ist sicher vor der NSA. Dabei sind die Aktivitäten anderer Dienste auf diesem elektronischen Spitzelgebiet noch gänzlich ausgeblendet. Wir lernen: Orwells – im Roman »1984« vorgestellte – Big-Brother-Vision eines totalitären Überwachungsstaates ist fast harmlos gegenüber dieser nun Stück für Stück enthüllten globalen Mega-Unrechtsinfrastruktur. Sie ist in allen Bereichen des modernen Lebens präsent und hat Einfluss auf unser aller Handeln.

Im Juli noch, als die ersten Enthüllungen des Ex- NSA-Mitarbeiters Edward Snowden für Entsetzen sorgten, rief Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) uns Bürger auf, selbst mehr für den Schutz unserer Daten zu tun.

Verschlüsselungstechnik oder Virenschutz müssten mehr Aufmerksamkeit erhalten, sagte er nach einer Anhörung vor dem Parlamentarischen Kontrollgremium.
Sofort waren die Verkäufer diverser Verschlüsslungsprogramme unterwegs, um Sicherheit im Internet zu verkaufen. Motto: Macht »Rührei« aus euren Daten und jedem Spion vergeht der Appetit. Seit gestern ist aber klar, was längst Experten befürchteten: Die NSA kann die meisten der »Rühreier« in den Ursprungszustand zurück sortieren. So lesen die Geheimdienstler private wie Regierungskommunikation in Echtzeit mit, durchforsten Bankkonten, forschen Geschäftsgeheimnisse aus.

Die NSA überwacht nicht nur Microsoft, Skype oder Facebook, sie speichert millionenfach E-Mails und Telefongespräche. Die Behörde knackt mit Supercomputern, technischen Raffinessen, Gerichtsentscheiden und mannigfacher »Überzeugungsarbeit« bei IT-Entwicklern der Codierungssysteme. Der Geheimdienst ist so oft schon bei der Programmentwicklung dabei. Was unternimmt unsere Regierung? Sie hat die »NSA-Affäre« für beendet erklärt. (René Heilig)

Was sind dadurch – von Angst oder Unsicherheit einmal abgesehen – die konkreten Konsequenzen für den Bürger?
Um beim Thema Fußball zu bleiben: Wenn ein großes Spiel im Ausland stattfindet und sie nicht wissen, dass sie in einer Straftätersportdatei gelandet sind und sich ein Flugticket besorgen, laufen sie Gefahr, dass sie ihren Urlaub nicht antreten können, weil sie nicht über die Grenze gelassen werden. Und das, obwohl sie kein Vergehen begangen habe, aber trotzdem in dieser Datei drin sind ohne informiert worden zu sein.

Wann werde ich denn in diese Datei eingetragen?
Beispielsweise wenn es eine Ausschreitung in Ihrem Fanblock gegeben hat und Sie zufällig, aber als Unbeteiligter, in der Nähe waren und Ihre Personalien aufgenommen wurden. Zur falschen Zeit am falschen Ort sein reicht bei Überwachung schon aus.

Und wenn es nicht um Fußballspiele, sondern um im Netz gesammelte Daten geht?
Sicher ist: Bei allen anderen Dateien der Geheimdienste verhält es sich genauso wie bei der genannten Straftätersportdatei. Die Bürger werden nicht darüber informiert, wenn sie aus welchen Gründen auch immer in so einer Datei geführt werden. Das heißt, der Bürger muss erst einmal nachfragen: Liegen da Daten über mich vor? Antwort ungewiss. Wir finden, Betroffene sollte direkt darüber informiert werden. Zudem haben wir seit dem elften September immer mehr eine Aufweichung des Trennungsgebots erlebt. Das heißt, die Daten, die die Polizei sammelt bleiben nicht mehr bei der Polizei. Und die Daten, die der Geheimdienst sammelt bleiben nicht mehr beim Geheimdienst. Stattdessen wird getauscht. Seit Prism wissen wir: das passiert auch international. Die Unsicherheit darüber, wie sich jeder einzelne noch im Internet oder in Emails äußern darf, ohne ins Raster zu geraten, sehe ich als großes Problem für die Meinungsfreiheit.

Angela Merkel hat den Prism-Skandal so kommentiert: »Auf deutschem Boden gilt deutsches Recht«. Tatsächlich existieren seit Längerem Gesetze, die die Überwachung des Netzes durch Geheimdienste erlauben und andere Gesetze, die den Austausch der Daten zwischen den Diensten erlauben.
Ja, klar. Es war nicht so, dass Prism wie eine Naturgewalt über uns gekommen ist. Die Gesetzesgrundlage für Datensammlungen wie jene durch Prism bestanden in den USA schon seit längerer Zeit. Und Datenschützer und Bürgerrechtler haben auch schon seit Jahren davor gewarnt, dass Daten, die bei US-Diensten verarbeitet werden, auch indirekt durch deutsche Dienste über den Datenaustausch abgegriffen werden können. Das grundsätzliche Problem ist, dass von allen Parteien, die seit 2001 in Deutschland an der Macht waren – das heißt genauso von Rot-Grün wie von Schwarz-Gelb – daran gearbeitet wurde, dass dieses Datensammelnetz immer engmaschiger wird. Die FDP beispielsweise ist schon lange nicht mehr die liberale Bürgerrechtspartei, die sie einmal war. Sie hat zwar eine Justizministerin die sich nach wie vor standhaft weigert, die Vorratsdatenspeicherung einzuführen, was ich ihr auch hoch anrechne. Doch andere Überwachungsgesetze hat sie mitgetragen, beispielsweise die Änderung des Telekommunikationsgesetzes bei der Bestandsdatenauskunft. Wobei es genau darum geht, dass Geheimdienste verdachtsunabhängig und ohne Richterbeschluss und ohne Kontrolle auf Daten von Bürgern zugreifen können. Auch die Grünen haben unter Bundeskanzler Gerhard Schröder sehr viel mitgetragen im Bereich gemeinsame Datenbanken, u.a. die genannte Aufhebung des Trennungsgebots. Schließlich hat auch die SPD diverse Abkommen mit den USA, die Überwachung ermöglichen, mit zu verantworten. Durch Prism hat es jetzt bei vielen Menschen »klick« gemacht – daher die große Empörung.

Sie plädieren für mehr Transparenz im Vorgehen der Exekutive und wenden sich gegen die durch Intransparenz entstehende Angst. An einer Stelle allerdings macht sich Ihre Partei die Anonymität im Netz selbst zunutze und überwacht auch selbst ein bisschen: Es geht um die Nutzer von Internetforen, die anonym Promotionen von Politikern nach Plagiaten durchsuchen. Die Ergebnisse deren Arbeit spielen dann meist Mitglieder der Piraten Anwälten zu.
Ja, das ist richtig. Wir fordern Transparenz – aber nur dort, wo der Datenschutz des einzelnen nicht berührt wird. Stellen sie sich mal vor, Sie hätten bei Guttenberg im Ministerium gearbeitet und gleichzeitig im Internet seine Doktorarbeit entlarvt – hätten Sie dahinter Ihren Namen sehen wollen? Wenn Ihr eigener Arbeitsplatz deswegen in Gefahr gewesen wäre?

Sie sehen die Plagiatsjäger als Whistleblower?
Ja. Ich sehe das als eine Art von kollektivem Whistleblowing. Wissenschaft steht immer auf den Schultern von Giganten, aber da muss man eben offen damit umgehen und richtig zitieren statt zu plagiieren.

Die Piraten werden häufig als Internetpartei wahrgenommen. Tatsächlich umfassen wichtige andere Themenbereiche wie Arbeitsmarkt, Renten oder Eurokrise im Parteiprogramm der Piraten nur wenige Seiten. Könnten Sie vielleicht die entsprechenden Positionen etwas erläutern?
Ein Thema, das mir besonders am Herzen liegt, ist der soziale Wandel. Als junger Mensch erlebe ich das selbst: Die Erwartungshaltung der Gesellschaft und damit auch der Sozialsysteme ist eigentlich, dass ich studiere oder eine Ausbildung mache und dann ganz lange in einer Firma bleibe oder doch wenigstens einem Beruf treu bleibe - obwohl das längst für viele unrealistisch ist. Wer nicht in dieses Muster fällt, muss sich erklären und rechtfertigen. Wir wollen das Sozialsystem dahingehend ummodeln, dass es ein bedingungsloses Grundeinkommen gibt, für jeden Menschen. Das Grundeinkommen funktioniert wie ein Steuerfreibetrag und alles was dazu verdient wird, wird ganz normal besteuert. Es wird einfach dafür gezahlt, dass der Mensch existiert und eine Menschenwürde hat. Dann müssen die Menschen nicht mehr zum Amt gehen um dort anzuzeigen, dass etwas mit ihnen nicht in Ordnung ist wenn sie beispielsweise ihre Eltern pflegen, Kinder großziehen, eine Umschulung machen, krank sind oder gerade keinen Job haben.

Aber dem, was Sie kritisieren – dass die Gesellschaft einen unangemessenen Umgang mit Arbeitslosen pflegt oder allgemein mit Menschen, die Brüche im Lebenslauf haben – ließe sich auch anders begegnen. Beispielsweise durch eine Aufklärungskampagne.
Dadurch würde sich aber die ökonomische Unsicherheit der Menschen nicht legen. Gerade junge Menschen, die sich öfter mal umorientieren müssen haben schnell das Gefühl, dass da nichts Verlässliches ist, auf das sie sich stützen können, wenn sie es mit einem Bruch im Lebenslauf zu tun haben. Dann sind sie einerseits in diesem Stigma gefangen und gleichzeitig mit ökonomischer Unsicherheit konfrontiert. Beides hält die Menschen davon ab, sich beispielsweise unternehmerisch zu betätigen oder eine Familie zu gründen. Anders ist es, wenn man sagt: Jeder hat ein Fundament, auf dass er aufbauen kann.

Es existieren durchaus Instrumente als Folge der Hartz-IV-Gesetzgebung, die es Arbeitslosen ermöglichen, sich selbständig zu machen oder wieder Arbeit zu finden – Gründungszuschüsse oder Wiedereingliederungsmaßnahmen.
Aber die Gesellschaft – oder die Regierung – sagt momentan: Wir müssen diese Menschen überwachen, wir müssen überprüfen, ob ihnen das Geld wirklich zusteht. Wir müssen zu ihnen nach Hause und in die Wohnung kommen um zu überprüfen, wie viele Zahnbürsten in ihrem Badezimmer stehen. Wie viele Menschen dort wohnen und ob sie auch wirklich dort wohnen. Wir müssen anschauen, wie viel Geld sie auf welchen Konten haben und so weiter. Dieser ganze Bürokratieapparat - teilweise 50 Prozent der Kosten - ließe sich einsparen; das Geld könnte direkt in unsere Sozialsysteme fließen.

Wie stehen die Piraten zur Politik der Währungsunion in der Eurokrise?
Wir befürworten Schuldenschnitte in Krisenländern. Durch verschleppte Schuldenschnitte ist ein großer Anteil der Steuergelder für Hilfspakete kaum bei den Menschen angekommen, die die Hilfe nötig hatten sondern ist für Zinsen draufgegangen. Es ist naiv zu glauben, dass Länder mit einer exorbitanten Verschuldungsquote jemals wieder von allein auf die Beine kommen. Außerdem wollen wir Volksentscheide bei allen wichtigen Fragen der EU-Politik.

Kritiker bezeichnen viele Positionen Ihrer Partei mitunter als naiv und nicht zu Ende gedacht. Was sagen Sie denen?
Ich denke, es ist der Vorteil einer jungen Partei, dass wir eben keine Berufspolitiker sind, sondern noch Idealismus in uns tragen. Denn jemand, der schon seit Jahren im Bundestag sitzt, ist beispielsweise von der ganzen Rentenproblematik gar nicht mehr betroffen, so wie die Alterssicherung für Abgeordnete aussieht. Jemand, der schon seit Jahren im Bundestag sitzt, weiß auch nicht, wie es ist, die Miete nicht bezahlen zu können. Deshalb braucht es im Parlament Menschen, die aus der Mitte der Bevölkerung kommen und nicht so tief in dieser Politikfilterbubble drin sind und normale Alltagsprobleme noch sehen statt einer Machtlogik zu folgen, die sich bei hierarchischen Parteien automatisch entwickelt: Da wollen viele dann ihren Sitz nicht verlieren und stimmen deshalb brav mit anstatt den Fraktionszwang zu verletzen.

Sie machen aus der Not eine Tugend und sehen die Ferne Ihrer Partei zum Politikbetrieb als Vorteil.
Ja. Denn was ist denn so schlecht daran, wenn zur Abwechslung einmal normale Bürger in den Bundestag kommen? Hieße das im Umkehrschluss, dass normale Bürger am besten auch nicht wählen dürften, weil sie sich angeblich nicht mit Politik auskennen? Es gibt so viele Menschen, die nicht zur Wahl gehen. Das heißt doch, dass in der Politik etwas schief läuft, dass die Wähler sich eine Veränderung in der Politik und mehr Nähe der Politik zu den Bürgern wünschen und dass es richtig ist, die Betriebsblindheit der Politiker in Frage zu stellen. Das bedeutet auch Pairing-Abkommen wie sie derzeit gehandhabt werden oder den Fraktionszwang in Frage zu stellen.

Es gibt jedoch so genannte Gewissensentscheidungen – meist bei ethisch sehr strittigen Themen wie beispielsweise Präimplantationsdiagnostik – bei denen die Meinungen quer durch die Parteien sehr disparat verteilt sind.
Aber wer definiert, wann eine Gewissensentscheidung ansteht? Ich war mal in Hamburg bei einer Bürgersprechstunde eines Abgeordneten und habe ihn gefragt, wie er zur Vorratsdatenspeicherung steht. Für mich ist das eine Gewissensfrage, doch der Abgeordnete hat bei dem Thema erst ganz viel rumgeeiert und schließlich gemeint, bei seiner Partei würde der Fraktionszwang greifen und deshalb sei das keine Gewissensfrage. Auch deshalb lehne ich Fraktionszwang grundsätzlich ab. Stellen sie sich mal ein Parlament vor, bei der jede Abstimmung frei von den Abgeordneten entschieden werden kann und alle Argumente auf den Tisch kommen - auch die von Minderheiten innerhalb einer Fraktion! Da würden endlich wieder Debatten stattfinden. Und ich glaube, dass wäre ein riesiger Mehrwert. Dann müsste Abgeordnete nämlich wieder in den Plenardebatten überzeugen und nicht im Hinterzimmer.

Dennoch werden Sie sich eventuell genau diesem Politikbetrieb nach der Bundestagswahl stellen müssen und ihn nicht sofort komplett umkrempeln können. Gerade im Bereich Internet – dem wichtigsten Thema Ihrer Partei – läuft die Gesetzgebung der technischen Entwicklung hinterher. Sie wollen stattdessen wieder mehr Aussprachen im Parlament, die viel Zeit kosten. Wie wollen Sie dieses Problem lösen?
Ich glaube nicht, dass die Grundrechtsgesetzgebung der Entwicklung hinterher läuft, auch wenn an anderer Stelle einiges nicht zeitgemäß ist. Das Problem ist meiner Ansicht viel mehr, dass die Gesetzgebung sich in den vergangenen Jahren über die Leitlinien des Grundgesetzes hinweggesetzt hat. So gibt es zahlreiche Überwachungsgesetze, die von Karlsruhe wieder zurückgepfiffen wurden – auch auf Initiative von Piraten hin. Und was den Politikbetrieb betrifft: Wenn wir in den Bundestag kommen, werde ich das eine Weile machen und dann jemand anderem Platz machen. Weil ich der Ansicht bin, dass es dort mehr Fluktuation braucht.

Bisher gab es in der vergleichsweise kurzen Geschichte der Piratenpartei tatsächlich eine große Zahl an Personaländerungen – vor allem seit dem Einzug in einige Landesparlamente häuften sich Rücktritte. Allerdings nannten die Betroffenen als Gründe oft Überforderung oder Burn-Out.
Uns ist in der Partei mittlerweile klar geworden, dass wir da ein Auge drauf haben müssen. Das heißt, wenn wir sehen, dass sich jemand zu sehr verausgabt oder die ganz Zeit am Limit läuft, bremsen wir uns gegenseitig. Wir arbeiten ja alle ehrenamtlich und haben bundesweit in der Partei nur zwei bis drei in Vollzeit oder Teilzeit angestellte Kräfte. Und gerade in ehrenamtlichen Strukturen tendieren Menschen dazu, Vollgas zu geben. Weil sie eben für eine Sache brennen und möglichst viel in möglichst kurzer Zeit bewegen wollen. Das geht, wenn keiner bremst, oft auf Kosten der Familie und vielleicht auch auf Kosten des Berufslebens. Ich war selber lange für Bürgerrechtsbewegungen und Vereine tätig, dort gibt es ähnliche Probleme, insofern kenne ich dieses Thema sehr gut, weiß aber auch dass es da Lösungen gibt.

Nun sind die Piraten keine NGO, sondern das Gegenteil. Würden Sie sagen, dass auch die Härte des politischen Alltags – Intrigen, Machtkämpfe usw. – ein Faktor ist?
Das habe ich persönlich in der Partei so nicht erlebt, muss ich sagen. Wir haben sehr basisdemokratische Strukturen, die dem vorbeugen. Viele Vereine und Initiativen haben ganz ähnliche Strukturen – auch deshalb habe ich mich schnell gut zurecht gefunden. Aber natürlich gibt es in meiner aktuellen Arbeit einen Unterschied zu der bei einer Bürgerrechtsbewegung. Als Bürgerrechtler kannst du immer Forderungen stellen, kannst aber nie etwas umsetzen. Du übst eben Druck auf die Parteien aus und die versprechen dann irgendwann: »Ja, machen wir.« Aber dann passiert nichts. Das ist der Grund, warum ich in die Politik gegangen bin, weil ich festgestellt habe: Ich kann mich auf die Versprechen der Parteien nicht verlassen.

Wie gehen Sie mit der Belastung durch Ihre Arbeit um?
Ich habe ein Team, das mir hilft, wenn ich Hilfe brauche, bei der Terminkoordination oder bei anderer Arbeit, die im Laufe der Woche anfällt. Und ich achte darauf, dass ich mir gezielt einige Tage in der Woche frei nehme oder blocke. Weil es mir wichtig ist, zwischendurch auch mal abzuschalten, um weiterhin gute politische Arbeit machen zu können. Da mache ich dann auch das Handy gezielt aus.

Was wird aus Ihnen, wenn die Piraten in den Bundestag einziehen?
Dann werde ich Bundestagsabgeordnete. Als solche würde ich sehr gerne im Bereich Inneres im Ausschuss sitzen und dann all die kleinen Anfragen an den Bundestag loswerden, die mir so auf der Seele brennen – zum Thema Überwachung, Prism oder zur Vorratsdatenspeicherung - und eigene Anträge einbringen.

Wie stehen die Piraten zu den anderen Parteien im Parlament?
Ich könnte mir vorstellen, dass wir eine Minderheitsregierung tolerieren. Ich würde mir persönlich tatsächlich auch wünschen, dass wir eine Minderheitsregierung bekommen. Dadurch würde das Parlament unglaublich aufgewertet, anstehende Entscheidungen müssten dann wieder viel mehr im Plenum statt in irgendwelchen Hinterzimmern der Regierung besprochen werden.

Und was machen Sie, wenn Ihre Partei an der Fünf-Prozent-Hürde scheitert?
Dann mache ich dasselbe, was ich jetzt mache. Die Piratenpartei gibt es seit 2006 und wir haben schon Wahlkampf gemacht und uns für Bürgerrechte und Transparenz eingesetzt als niemand uns kannte und alle nur den Kopf geschüttelt haben über den Namen. Wir erleben momentan einen gesellschaftlichen Wandel, der es notwendig macht, dass eine neue Partei auf die Bühne tritt die diesen gesellschaftlichen Wandel auch so in die Politik trägt. Nach der Bundestagswahl steht die Europawahl an, danach diverse Kommunalwahlen und danach wieder Landtagswahlen. Wir sind keine Eintagsfliege, sondern ein langfristiges Projekt.

Das Gespräch führte Sebastian Grundke.

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