Die Linken und »das stärkste Fernrohr«

Die alte Tante SPD und ihre grüne Nichte: Wozu bräuchte es Rot-Rot-Grün? Eine Antwort auf Horst Kahrs

  • Michael Brie und Dieter Klein
  • Lesedauer: 9 Min.
Die Linkspartei kann nicht wegen Einzelforderungen in eine Bundesregierung eintreten, sondern es muss ihr ums Ganze gehen: um Einstiege in einen Richtungswechsel der Politik.

Mit Recht konstatiert Horst Kahrs in »neues deutschland« (7. April): »Rot-Rot-Grün war bislang kein Anliegen aus der deutschen Gesellschaft, sondern eine Spielmarke des politischen-medialen Betriebs«. Detailliert stellt er die Veränderungen der Klassen- und Sozialstrukturen da, die zu einer Veränderung der horizontalen wie vertikalen Arbeitsteilung geführt haben. Er greift dabei vor allem auf Forschungen zurück, die unter Leitung von Michael Vester, Emeritus der Universität Hannover, durchgeführt wurden. Er konstatiert ein wachsendes Auseinanderdriften der oberen Mitte und derer mit prekären und instabilen Einkommen, den anstrengender gewordenen Kampf, sich in der Mitte zu halten, und die strukturelle Benachteiligung der Beschäftigten in den Humandienstleistungen gegenüber Industrie und Export. Seine abschließende Frage ist, welche »gemeinsamen Anliegen« dieser so verschiedenen Gruppen formuliert werden könnten.

Horst Kahrs findet die Angebotslücke darin, dass die »notwendigen Investitionen in die öffentliche Infrastruktur und in den Ausbau öffentlicher Güter« ausgeblieben seien. Seine Schlussfolgerung ist: »Linksreformerische Politik könnte also ein gemeinsames Interesse an öffentlicher Infrastruktur, Diensten und Gütern in den Kommunen zum weiteren gemeinsamen Bezugspunkt für unterschiedliche soziale Schichten und Milieus machen wollen«. Dies sei Sache vor allem von Linkspartei und SPD. Die Grünen sieht Kahrs wie die FDP (und partiell die CDU) als Partei der Bessergestellten und damit reif für eine »neue strukturelle bürgerliche Mehrheit«. Gegen diese Perspektive, so Horst Kahrs abschließend, braucht es ein »rot-rotes Angebot, welches die Grünen nicht ablehnen können«.

Debatte R2G
Michael Brie und Dieter Klein

Der politisch-mediale Betriebs redet gern über Rot-Rot-Grün, hat Horst Kahrs in »neues deutschland« vom 7. April formuliert. Doch sei die gesellschaftliche Basis für eine Mehrheit links von der Union schmal wie nie. In der Ausgabe vom 28. April führte Horst Arenz die Diskussion weiter - vor allem unter Hinweis auf Veränderungen im Alltagsbewusstsein, auf welche die politische Linke reagieren müsse. Was muss sich ändern, damit sich endlich was ändert? Welche Schlussfolgerungen sollten aus technologischer Entwicklung, ökologischer Herausforderung und dem Wandel des Politischen gezogen werden? Und welche Rolle haben SPD, Grüne, Linkspartei dabei? Die Diskussion wird an dieser Stelle weitergeführt - mehr dazu finden Sie unter dasND.de/linksdebatte

Michael Brie, Jahrgang 1954, hat Philosophie in Berlin und Leningrad studiert. Anfang der 1990er Jahre arbeitete Brie als Professor für Sozialphilosophie an der Humboldt-Universität, später wurde er Mitarbeiter des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Neben Engagements beim Institut Solidarische Moderne und bei Attac war er auch in mehreren Programmkommissionen der PDS und der Linkspartei aktiv.

Dieter Klein, Jahrgang 1931, ist Senior Fellow am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Er hat Wirtschaftswissenschaften an der Humboldt-Universität studiert, war Direktor des Instituts für Politische Ökonomie und Prorektor für Gesellschaftswissenschaften. Maßgebliche Mitwirkung am Forschungsprojekt »Moderner Sozialismus«. Dieter Klein ist Mitglied im Institut Solidarische Moderne, im Willy-Brandt-Kreis und der Michael-Schumann-Stiftung; zudem hat er in den Programmdebatten von PDS und Linkspartei mitgewirkt.

 

So weit, so gut und doch fehlt seinen Schlussfolgerungen eine entscheidende Dimension. Zunächst: Es ist keinesfalls so, dass die jetzige Regierung nur bei der Frage der Arbeitsmarktregulation aktiv geworden ist. Ganz in der Tradition der vorhergehenden Großen Koalition wird der Ausbau frühkindlicher Bildung vorangetrieben, sind ihr u.a. die wissenschaftliche und die Verkehrsinfrastruktur wichtige Themen. Auch die CDU/CSU weiß um die Bedeutung der öffentlichen Güter. Sie ist eine (bürgerliche) Volkspartei. Und die Grünen haben ihre Bastionen keinesfalls in den gleichen Milieus der Bessergestellten wie die FDP. Ein- und dasselbe Nettoeinkommen hat ganz unterschiedliche Quellen. Während die FDP ihre Wählerinnen und Wähler vor allem in der oberen Mitte der marktorientierten Bereiche der Gesellschaft hatte, ist die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler der Grünen im Bereich der soziokulturellen und humanorientierten Dienstleistungen beschäftigt. Ihre Wertevorstellungen und Lebensweisen differieren. Es sind nicht die Grünen, die die FDP 2013 beerbt haben, sondern vor allem CDU (über 2,1 Millionen Wähler) und SPD (530.000 Wähler) sowie AfD (430.000 Wähler). Die Grünen erhielten von früheren FDP-Wählern nur 170.000 Stimmen, die LINKE 90.000.

Die »bürgerlichen« Milieus sind differenzierter, als Horst Kahrs angibt: Sie unterscheiden sich in »kritische Bildungseliten« und »engagiertes Bürgertum« (die zu SPD, Grünen und Linkspartei tendieren) und »Leistungsindividualisten« und »etablierte Leistungsträger« (die ihr Kreuz eher bei CDU/CSU oder FDP bzw. jetzt AfD machen). Mit den Grünen würde sich eine durch CDU/CSU geführte Politik deutlich verändern müssen. Und dies gilt auch für Rot-Rot. Je nach Setzen auf ein Bündnis mit dem einen oder dem anderen Typus von »Bürgertum« verändert sich auch Politik.

Horst Kahrs hat eine Reihe wichtiger Fragen für die weitere Selbstveränderung der LINKEN aufgeworfen, die weiterer Diskussion bedürfen. Wir machen hier aber vor allem auf Eines aufmerksam: Der Vormacht der CDU wird nicht durch Einzelprojekte beizukommen sein, so wichtig sie sind und so umfassend sie auch sein mögen. Der Ausbau der öffentlichen Daseinsvorsorge und damit der Infrastruktur des Sozialen ist eine zentrale Aufgabe. Darin stimmen wir mit Horst Kahrs überein. Dafür wird zwar Druck von unten und von links, aber nicht unbedingt eine rot-rot-grüne Regierung gebraucht. Die Fähigkeit der von Angela Merkel geführten CDU ist es seit 2005, um des Machtgewinns und Machterhalts Willen ein hohes Maß an Flexibilität an den Tag zu legen: erst Ausstieg aus dem Atomausstieg, dann dessen Radikalisierung, erst ein hartes Bekenntnis zum Niedriglohn und Prekarisierung, dann der schleichende Weg über »Lohnuntergrenzen« hin zum Mindestlohn; erst Diskussionen über eine Arbeit über das 67. Lebensjahr hinaus, dann auch hier Akzeptanz der Rente mit 63 für Beschäftigte mit 45 Jahren Beitragszahlung zur Rentenkasse. Ähnliches geschah und geschieht in der Euro-Krise. Angela Merkel geht es um die Richtung: wettbewerbsorientierte Marktwirtschaft, Standortsicherung, soziale Stabilität. Dies ist ihre Triade eines konservativ aufgeklärten Neoliberalismus. Da ist in Maßen Platz auch für die Infrastruktur und die öffentlichen Dienstleistungen - solange die neoliberale Richtung bleibt.

Anders als für die SPD oder auch die Grünen steht für die Partei DIE LINKE die Frage, ob es überhaupt eine sinnvolle Option ist, wegen einzelner Projekte in eine gemeinsame Regierung mit der alten Tante und ihrer grünen Nichte zu gehen. Die LINKE hat bewiesen, wieviel sie auch aus der Opposition zu bewegen vermag, weil sie von links Positionen und Forderungen in das politische System einbringt, die sonst ignoriert werden. Der Mindestlohn und die Rentenfrage sind nur zwei Beispiele. Links wirkt - so ein überzeugender Wahlslogan der Partei. Und sie wirkt aus der Opposition heraus durchaus stärker, wenn es um Einzelfragen geht, als aus der Regierung. Der Koalitionsdisziplin können schnell wichtigste einzelne Forderungen kleinerer Regierungspartner zum Opfer fallen, wie die Anhänger der LINKEN, aber auch die der FDP oder der Grünen aus Erfahrung wissen. Dann aber haben diese Positionen im Parlament keine Stimme mehr. Und zugleich wird die Forderung nach einem Richtungswechsel, den die LINKE fordert, völlig unglaubwürdig. Dieser aber ist das strategische Ziel, das in ihrem Erfurter Parteiprogramm von 2011 verankert ist.

Es bedarf für die LINKE mehr als allein der Formulierung und Durchsetzung von Einzelforderungen, um sinnvoll sich an Bundesregierungen zu beteiligen. Es muss ums Ganze gehen und zwar in Gestalt konkreter Einstiege in einen Richtungswechsel der Politik. Ist eine solche Option unrealistisch, wäre jede Diskussion über eine Regierungsbeteiligung auf Bundesebene genauso falsch wie dumm und lächerlich. Man würde viel weniger als bisher schon erreichen, Gefahr laufen, politischen Selbstmord zu begehen und sich schwächer darstellen, als man ist. Wenn eine Regierungsbeteiligung der LINKEN nicht mit einem sozialen, ökologischen, demokratischen wie friedensorientierten Richtungswechsel verbunden ist, dann hätte dieser Richtungswechsel im Parlament keine glaubwürdige Stimme mehr. Eine linke Wahlalternative wäre verschwunden. Ein Angebot an die von Horst Kahrs dargestellten differenzierten sozialen Gruppen und Milieus muss deshalb beides enthalten - den Vorschlag eines deutlich anderen wirtschaftlich-sozialen, ökologischen und politischen Entwicklungspfades der Bundesrepublik und konkrete Forderungen, die nicht eine Abmilderung des Neoliberalismus darstellen, sondern als Einstiegsprojekte in eine veränderte Richtung überzeugen.

Der Kern dieses anderen Entwicklungspfades würde in einem sozialökologischen Gesellschaftsvertrag bestehen. Seine soziale Basis wäre eine solidarische Verbindung der sehr unterschiedlichen Interessen erstens der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Industrie mit denen im Handel sowie in den humanorientierten Dienstleistungen, zweitens mit denen der Mittelschichten vor allem im Bereich des Sozialen, der Bildung, Gesundheit und Kultur, aber auch denen, die eine ökologische Umgestaltung technisch und ökonomisch umsetzen wollen, sowie drittens mit den ins soziale Unten abgedrängten Gruppen, die ein neues Subproletariat darstellen.

Dieser sozialökologische Gesellschaftsvertrag könnte drei zentrale Ziele haben:

(1) die gründliche Erneuerung und der Ausbau dessen, was Horst Kahrs im Umfeld der »Familie« sieht: die soziale, kulturelle, demokratische Infrastruktur, von der der weitgehend gleiche Zugang zu den Grundgütern eines freien Lebens abhängt: lebenslange Bildung, Gesundheit und Pflege, erheblich mehr Teilhabe an Entscheidungen, Mobilität und Wohnen, Zugang zur digitalen Welt usw.;

(2) der zügige ökologische Umbau der stofflichen, energetischen und Verkehrsstruktur unserer Gesellschaft, verbunden mit einem Wandel der Lebensweisen und einer neuen Industriepolitik, wie sie u. a. die IG Metall fordert, anschlussfähig an Kreise des Unternehmertums;

(3) die Sicherung des Primats einer demokratischen Politik durch ein scharfe öffentliche Kontrolle des Finanz- und Steuersystems, den Ausbau des öffentlichen Bankwesens sowie die drastische Stärkung der öffentlichen Finanzen durch Erhöhung der Steuereinnahmen insbesondere mittels Belastung der obersten Gruppen der Gesellschaft (bis hin zu einer Erbschaftssteuer auf US-Niveau und einer Vermögensabgabe). Ohne diese Maßnahmen der Finanzkontrolle und der Umverteilung ist Umgestaltung unmöglich und alles Reden darüber ohne jede Überzeugungskraft. Die Sozialisierung der Investitionen, von der schon Keynes sprach, braucht einen entsprechenden Bankensektor, und ohne einen starken steuerfinanzierten öffentlichen Anschub werden die notwendigen Investitionen in das Soziale wie Ökologische nicht kommen. Nur auf dieser Basis ist auch friedensstiftende globale Solidarität in einer neuen Dimension möglich.

Erst durch diese Kombination zu einem sozialökologischen Gesellschaftsvertrag wird aus Einzelforderungen ein Gesamtansatz, der die unterschiedlichen Interessen in einem Bündnis von bedrohten ArbeiternehmerInnen, solidarischer Mitte und dem Unten der Gesellschaft (einem Mitte-Mitte-Unten-Bündnis) verbindet, einen neuen Entwicklungsschub der gesamten Gesellschaft auslösen kann, spannende Lebensperspektiven für viele neu eröffnet und zugleich die dafür notwendigen Sicherheiten schafft.

Davon ist die Gesellschaft gegenwärtig weit entfernt. Horst Kahrs hat eine durch die digitale Revolution beschleunigte Differenzierung von Klassen, Gruppen, Schichten und Milieus skizziert. In jedem dieser Segmente der Gesellschaft sind die einzelnen auf ihren eigenen Aufstieg, auf den eigenen Statuserhalt, auf die Abwendung des eigenen sozialen Abstiegs oder auf das pure Überleben in der Prekarität fixiert. In diesen voneinander getrennten Daseinskämpfen hat sich bei sehr vielen die Hoffnung auf die Möglichkeit einer alternativen Gesellschaft verflüchtigt. Von den »konkreten Utopien« (Ernst Bloch) ist meist nur das Konkrete, nur das in die gegebenen Verhältnisse Einfügbare geblieben. Aber ohne Visionen, so der jüdische König Salomon, werden die Menschen »wüst und wild«. Der Aufstieg eines rechten Populismus und »gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit« zeugt davon Bände.

Emanzipation bedarf erstens unbedingt konkreter, im Heute realisierbarer Projekte. Diese müssen aber viel umfassender sein und breiter aufgestellt, als von Horst Kahrs skizziert. Zweitens müssen sie so angelegt sein, dass aus dem Gegeneinander, dem Kampf ums Dasein auf Kosten der Anderen eine gemeinsame, eine solidarische Entwicklung der vielen Verschiedenen entsteht. Gerade weil die horizontalen und vertikalen Differenzierungen zugenommen haben, ist das Miteinander in einem sozialökologischen Gesellschaftsvertrags so wichtig. Und drittens braucht Emanzipation »das stärkste Fernrohr, das des geschliffenen utopischen Bewusstseins, um gerade die nächste Nähe zu durchdringen« (Ernst Bloch), um in ihr Ansätze für eine solidarische gerechte Friedensgesellschaft in Einklang mit Mitmenschen und Natur zu erkennen und sie voll zu entfalten.

Es gibt ganz offensichtlich Zukunftsvorstellungen, an denen angeknüpft werden kann, um veränderungsmächtig zu werden. Dafür sprechen die Bewegung der Indignados, der Empörten, in Südeuropa, die Occupy-Bewegung und ihr Übergang in viele einzelne Solidarprojekte, Friedensinitiativen, Stadtteilversammlungen wie in Madrid, die Zunahme von Volksbegehren und Volksentscheiden, Energiegenossenschaften und erfolgreiche Rekommunalisierungen in Deutschland, die Bildung von Gemeinwohlzentren, Fair-Trade-Läden, sprechen partizipative Bürgerhaushalte und Praxen solidarischen Wirtschaftens.

Diese Bewegungen und ihre Ziele für eine Gesellschaft nach dem neoliberalen Kapitalismus haben einen gemeinsamen Nenner: Menschlicher Reichtum anstelle von Kapitalreichtum! Selbstbestimmtes Leben der einzelnen in Sicherheit anstelle der Fremdbestimmtheit durch Finanzmärkte! Dies könnte nun tatsächlich ein Angebot sein, das weder die SPD, die Grünen noch die LINKE ablehnen sollten.

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