Zufällig noch ein Wrackteil entdeckt
Stimmt die These von einem Raketentreffer, muss es Trümmer der Waffe geben. Doch wer hat sie?
US-Außenminister John Kerry hat für die Echtheit eines vom ukrainischen Geheimdienst abgefangenen Gesprächs gebürgt. Der Mitschnitt kursierte bereits, da rauchten die Trümmer der am Donnerstag vergangener Woche abgeschossenen Boeing noch. Also alles klar: Für den Tod der 298 Passagiere des malaysischen Passagierflugzeuges soll Nikolai Kosizyn verantwortlich sein. Weil er der Anführer der russischen Kosaken ist, die an der Ostgrenze der Ukraine auf Seiten der sogenannten Separatisten kämpfen. Die beiden Telefonierer wiesen auf diese Truppe als Urheber der Unglücks hin.
Auch wenn es schwer fällt, sich vorzustellen, wie berittene Schwadronen, die einst Lenins Revolutionsgarden attackierten, ein modernes Flugabwehrsystem bedienen - die US-Dienste können, nachdem ihre These von den schießwütigen Putin-Truppen zerplatzte, derzeit keinen geeigneteren Schuldigen präsentieren.
Für gewöhnlich untersucht man erst und urteilt oder verurteilt dann - auf der Basis von Beweisen und Indizien. Im Fall der Ostukraine, in der die Kämpfe trotz des Hinmetzelns von fast 300 völlig unbeteiligten Passagieren und Besatzungsmitgliedern härter denn je weitergehen, ist das anders.
Wer schon einmal Flugunfall-Experten bei der Spurensuche begleitet hat und dieses akribische Suchen und Bewerten mit dem vergleicht, was bei Donezk passiert, weiß: Hier wird nichts aufgeklärt, hier wird vertuscht. Normalerweise dokumentiert man die Lage und Auffindeposition von Trümmern, Fracht und menschlichen Überresten sorgfältig. Früher setzten die Experten oft das zerstörte Flugzeug aus den gefundenen Teilen so gut es ging wieder zusammen, um Ursachenforschung betreiben zu können. Heute lässt man das Computer erledigen. Nichts dergleichen findet in der Ukraine statt.
Die leitenden Ermittler der Ukraine und der Niederlande bemängelten noch am Donnerstag, dass Separatisten die Arbeiten an der Unglücksstelle behindern. Das bestätigt der Leiter der unbewaffneten niederländischen Polizeimission, Jan Tuinder: Es gebe immer noch »Verrückte, so dass es sehr schwer ist, zu den Leichen vorzudringen«. Aus seiner Sicht seien das keine Rebellen sondern »Kriminelle«.
Dass bisher nur schlampig recherchiert wurde, zeigt der neue Fund eines Wrackteils samt Leichen. Es handelt sich um ein Rumpfstück, in dem Sitze und Fenster intakt waren. Es sei plötzlich in einem dichten Waldstück unweit der anderen Wrackteile aufgetaucht, sagte Michael Bociurkiw von der OSZE-Beobachtermission.
Die vom russischen Generalstab in Umlauf gebrachte Theorie, die Boeing könnte durch einen ukrainischen Suchoj-Jagdbomber vom Himmel geholt worden sein, ist anscheinend aus dem Rennen. Aber es gibt eine andere Variante bei »RIA-Novosti« zu lesen. Dem 156. Fla-Raketenregiments der ukrainischen Armee sei befohlen worden, am 17. Juli die Deckung von Bodentruppen zu trainieren. Die »Buk«-Batterien hätten unweit von Donezk Stellung bezogen. Zwei Jagdbomber Su-25 dienten als Übungspartner. Einer der Jets kreuzte unterhalb der Boeing deren Kurs - für die Raketensoldaten ergab das ein Ziel.
Diese Theorie des »tragischen Zufalls« erklärt jedoch nicht, wie es überhaupt geschehen sein soll, dass bei einer Übung eine scharfe Rakete startete. Mit dieser Frage befassten sich Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes der Ukraine, »die den Chef und die Mannschaft der Batterie gegen halb zehn Uhr abends abgeholt haben«, sagt die russische Agentur.
Ente oder nicht - die meisten Experten gehen davon aus, dass die Zivilmaschine von einer Boden-Luft-Rakete abgeschossen wurde. Doch wer bediente die Technik, wer gab den Befehl: »Pusk!« (Start!)?
Einige Fachleute meinen sogar beweisen zu können, dass die Boeing an der linken Seite zwischen Business- und Economie-Class zerrissen wurde. In dem Fall müssten sich zumindest Anhaftungen der Schrapnellstücke finden lassen, die bei der Annäherung von der Rakete ausgestoßen wurden.
Es stimmt zwar, dass der Raketensprengkopf in Tausend Stücke zerplatzt. Doch wesentliche Teile der 5,5 Meter langen Rakete bleiben erhalten. Sie fallen abseits der Flugzeugteile zu Boden. Erfahrungswerte vom Gefechtsschießen besagen, dass man sie in der Regel drei bis vier Kilometer von der Abschussstelle entfernt findet. Es kann sich um elektronische wie Triebwerksteile handeln. Sie tragen Typenschilder. So lässt sich auf den Hersteller und den ursprünglichen Empfänger der Waffe schließen. Doch innerhalb einer reichlichen Woche lässt sich vieles fortschaffen.
Vieles könnten sich US- und andere Dienste an Vergleichsobjekten anschauen. Sie müssten nur nach Finnland oder zum NATO-Partner Griechenland fahren. Auch deren Armeen verfügen über »Buk«-Raketenkomplexe aus russischem Export.
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