Sollte Schottland unabhängig sein?
Ein Treffen mit Ross Greer von der Ja- und David Whitton von der Nein-Kampagne
Wer brachte als erster das Referendum ins Spiel?
David Whitton: First Minister Alex Salmond 2007. Die Idee entwickelte sich, bis die Nationalpartei den 18. September 2014 festlegte. Ihr Kalkül: In den Wochen davor sind der 700. Jahrestag der siegreichen schottischen Schlacht von Bannockburn gegen England, das Golfturnier um den Ryder Cup in Gleneagles und die Commonwealth-Spiele in Glasgow, lauter schottische Wohlfühl-events. Wenn sie vorüber sind, steht die Abstimmung unmittelbar bevor.
Ist das Referendum sinnvoll?
Ross Greer: Das Unabhängigkeitsstreben geht weiter zurück als die Referendumsidee, in jüngerer Geschichte mindestens solange es die Schottische Nationalpartei gibt, und die wird dieses Jahr 80. Mit der Wiedereinsetzung des schottischen Parlaments 1999 – nach 300-jähriger Abwesenheit – und der unter Tony Blair begonnenen Regionalisierung erhielt der Unabhängigkeitsgedanke neue Nahrung. Doch anders als von London gehofft, nahm die Übertragung mancher Befugnisse von London nach Edinburgh der Unabhängigkeitsbewegung nicht den Wind aus den Segeln – der Hunger nach Selbstständigkeit wurde sogar noch größer. Mit dem Volksentscheid ist nun die Chance da, diesen Appetit zu stillen.
In Glasgow, Schottlands größter Stadt, liegen die Hauptquartiere zweier Kampagnen zum Unabhängigkeitsreferendum: »Yes Scotland« vereint Akteure der seit 2011 regional allein regierenden Schottischen Nationalpartei (SNP), der Grünen, einiger Mitglieder der Labour Party, mehrerer sozialistischer Parteien und Gruppen – und sehr viele, vor allem junge Parteilose. Ihr Anliegen: Schottland soll unabhängig werden.
Ihm gegenüber steht »Better Together – No thanks« mit Vertretern der Konservativen, Labours, der Liberaldemokraten und ebenfalls Parteilosen. Sie sind für den Verbleib Schottlands im Vereinigten Königreich und empfehlen den wahlberechtigten Schotten (ab 16 Jahre) sowie ca. 500 000 in Schottland lebenden und daher stimmberechtigten Engländern, Walisern und Nordiren, die Frage mit Nein zu beantworten. ro
Wer sympathisiert mit Ihren Kampagnen?
David Whitton: Männer in der Altersgruppe 24 bis 45 Jahre scheinen mehrheitlich nicht uns, sondern dem Ja zur Unabhängigkeit zuzuneigen. Bei Frauen derselben Gruppe ist es umgekehrt. Ebenso wie Ältere liebäugeln Frauen im Allgemeinen mit Ablehnung. Selbst die vom Ersten Minister Alex Salmond erhoffte Trumpfkarte, das Wahlalter erst- und einmalig von 18 auf 16 zu senken und so dem Ja mehr Zulauf zu verschaffen, sticht nicht. Bei Foren in Schulen, selbst in entlegenen Wahlbezirken wie dem von Salmond favorisieren auch die meisten Jüngeren Nein. Sie haben eine globale Sicht und fragen sich: Warum sollten wir unsere Perspektive verengen? Sozial schwache tendieren dagegen mit der Überlegung zum Ja: Wir haben eh nichts zu verlieren. Wer also gut dasteht, gebraucht Herz und Hirn – und sagt Nein zur Unabhängigkeit.
Ross Greer: Dass Männer zwischen 20 und 45 stark »Yes Scotland« zuneigen, kann ich bestätigen, nicht jedoch das Urteil, dass es bei Frauen andersherum sei. Wir beobachten bei ihnen noch größere Unentschiedenheit. Und bei den Jung- und Erstwählern haben wir ganz andere Erfahrungen als David: Alle Debatten an Schulen und Unis zeigen: Sobald die Leute unsere Argumente pro Unabhängigkeit kennen, stimmen sie in Probeabstimmungen für uns. In neun von zehn Fällen, wo ich dabei war, war das so.
Was würde die Unabhängigkeit im Alltag bedeuten – und ändern?
David Whitton: Auch wenn ich davon überzeugt bin, dass wir gewinnen werden, halte ich die Unabhängigkeit für Schottland für durchaus möglich. Doch was für ein Schottland wäre das? Zu welchem Preis? Mit welchem Charakter? Die Antworten darauf bergen für viele so viele Risiken. Meine Frau etwa arbeitet bei der Post. Sie weiß nicht, was mit ihrem Arbeitsplatz geschehen würde. So geht es vielen.
Ross Greer: Wenn wir im Referendum eine Mehrheit finden, werden in gut anderthalb Jahren zwischen London und Edinburgh ordentliche Trennungsmodalitäten ausgehandelt, bevor im Frühjahr 2016 die Unabhängigkeit proklamiert würde und wir Schotten bei folgenden Wahlen erstmals unsere eigene Regierung bestimmen könnten. Das ist historisch – und zugleich praktisch. Vom ersten Tag an werden wir Änderungen an den von der Tory-Regierung in London verfügten Wohlfahrtsstreichungen vornehmen, um zu verhindern, dass in Schottland bis 2020 rund 100 000 weitere Kinder in Armut fallen. Gleiches haben wir in der Wohnungspolitik vor. Wir planen Schritte zum Schutz von Eigentümern und Mietern vor Vertreibung, die durch Steuermaßnahmen der Zentralregierung heraufbeschworen wurden.
Welche Veränderung lässt sich ohne Unabhängigkeit nicht erreichen?
Ross Greer: Ich nenne nur drei Punkte: Ohne Unabhängigkeit werden die drei größten Parteien Britanniens bei den Parlamentswahlen im Mai 2015 noch weiter nach rechts driften. Zweitens: Ein besserer Schutz für Einwanderer ins Königreich vor Diskriminierungsplänen durch Parteien wie die fremdenfeindliche UKIP ist dringlich. Schottlands Nationalismus, der sich zivilgesellschaftlich und inklusiv, nicht ethnisch begründet versteht, wird dazu beitragen. Und: Ohne Unabhängigkeit wird Schottland nie die britischen Atomwaffen von seinem Territorium loswerden.
Was geschieht, wenn die Unabhängigkeit keine Mehrheit findet?
David Whitton: Schottland wird neue Kompetenzen zu gestärkter regionaler Selbstverwaltung erhalten. Die Parteien – Labour, Konservative und Liberaldemokraten –, die in »Better Together« zusammenarbeiten, haben sich gerade darauf verständigt. Nach der Unterhauswahl 2015 wird Schottland weitere Steuerbefugnisse bekommen.
Ross Greer: Dann wird es irgendwann ein neues Referendum geben. Viele Tausende Freiwillige haben eine Bewegung ins Leben gerufen, die vorher nie aktiv waren. Sie wollen die Gesellschaft verbessern.
Auch Salmond wollte die Frage nach größerer Autonomie ursprünglich mit auf dem Wahlzettel haben, konnte sich damit aber nicht durchsetzen. Könnte er diese größere Autonomie durch die Hintertür eines
Neins nun eher erreichen als durch den Versuch eines Ja zur Unabhängigkeit?
Ross Greer: Eine berechtigte Frage. Tatsächlich waren wir seinerzeit für die dritte Option auf dem Zettel – die weitestgehende Kompetenzverlagerung von London an Vertretungen in Schottland. Das hat London verhindert. Aber: Jene, die Nein zur Unabhängigkeit sagen, versprechen jetzt am lautesten neue Machtdelegation nach Edinburgh. Doch da sie das auch in der Vergangenheit zusicherten, ohne es zu halten, traue ich ihnen nicht. Das einzige, was maximale Selbstregierung gewährleistet, ist ein Ja im Referendum. Ein Nein lässt alles offen.
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