Der Zeuge mit dem roten Schal

Zum Tod des kritischen Publizisten Ralph Giordano

Vor knapp vier Monaten hielt er die Trauerrede auf seinen zwei Jahre älteren Freund Wolfgang Leonhard. Jetzt hat auch sein Herz aufgehört zu schlagen. Mit Ralph Giordano ist wieder ein Zeuge der gewalttätigen Rolle Deutschlands im »Jahrhundert der Extreme« von uns gegangen. Die Furche, die er im verkrusteten deutschen Boden zog, auf dass aus diesem kein Unheil mehr sprieße, hat eine neue Saat aufkeimen lassen. Und doch sah sich Ralph Giordano immer wieder enttäuscht.

Sein Markenzeichen war ein roter Schal, im Sommer ein seidener, des Winters aus Wolle. Kein Ausweis parteipolitischen Bekenntnisses. Gleichwohl der 1923 in Hamburg als Sohn eines italienischen Pianisten und einer deutsch-jüdischen Klavierlehrerin Geborene über elf Jahre Mitglied der KPD war. Er hatte die Nazizeit in mehreren Verstecken überlebt. Am 4. Mai 1945, als die Panzer von Montgomerys 8. Armee in Hamburg einrollten, schlug seine Stunde der Befreiung. Ralph Giordano und seine Mutter konnten endlich den Keller verlassen, in dem sie dank einer couragierten Hanseatin Zuflucht vor der Deportation gefunden hatten. Der junge Giordano wurde Kommunist, »in der Annahme, dass die Feinde meiner Feinde auch meine Freunde sein müssten. Ich habe die Partei dann aus den gleichen antifaschistischen und humanen Gründen, aus denen ich ihr beigetreten war, auch wieder verlassen. Die Kluft zwischen Propaganda und Wirklichkeit war unaufhebbar«, erzählte er mir dereinst.

Giordano, wie Wolfgang Leonhard ein scharfer Kritiker totalitärer Regime, gleich welcher Couleur, widersprach stets einer Gleichsetzung von Rot und Braun. Denn »der Nationalsozialismus ist und bleibt etwas Singuläres - in Hinblick auf seine Mordmotivation wie auch der Mittel, die er gebraucht hat. Es war ein industrieller Serien-, Massen- und Völkermord.« Seinen Bruch mit den Kommunisten (1961 in seinem Buch »Die Partei hat immer Recht« ausführlich begründet) nannte er im nd-Interview »schmerzlich«, denn die Zugehörigkeit, die er bei jenen gefunden zu haben glaubte, sei für ihn nach Jahren der Ausgrenzung in der Nazizeit sehr wichtig gewesen. Zudem haben die Kommunisten die größten Blutopfer nach 1933 getragen. »Und die Rote Armee hat den größten Blutzoll entrichtet. Wir wussten damals, dass unser Leben davon abhängt, wie rasch die Rote Armee nach Berlin kommt und Hitler-Deutschland militärisch den Garaus macht.«

Seine journalistische Laufbahn begann Giordano bei kommunistischen Blättern; das nötige Handwerkszeug erlernte er am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Sein erstes Buch, betitelt »Westdeutsches Tagebuch«, erschien 1953 im Ostberliner Verlag Neues Leben. Zwei Jahre darauf übersiedelte er sogar in die DDR, wo es ihn jedoch nicht mal ein Jahr hielt. Zurück in Hamburg schrieb er für die »Allgemeine Jüdische Wochenzeitung« und verfolgte im Auftrag des Zentralrats der Juden in Deutschland Prozesse gegen NS- und Kriegsverbrecher, deren Ausgang ihn selten zufrieden stellte.

Kurz vor dem Abitur hatte Giordano wegen der Nürnberger Rassegesetze das Johanneum-Gymnasium der Hansestadt verlassen müssen. Von einem Spielgefährten aus früher Kindheit war er an die Gestapo verraten worden. »Ich hatte gehofft, die spanische Volksfront würde über die Franco-Faschisten siegen. Und Joe Louis über Max Schmeling. Das alles hatte ich Gunter anvertraut.« Die Gestapo verhörte und misshandelte den 17-jährigen Giordano tagelang, entließ ihn dann jedoch zu seiner eigenen Überraschung. Die Erfahrung mörderischen Rassismus' ließ ihn sensibel auf jegliche Tendenzen von Chauvinismus reagieren. In Fernsehdokumentationen, vor allem für den NDR und WDR, entlarvte er den deutschen Kolonialismus und geißelte den türkischen Genozid an den Armeniern. Einem größeren Publikum wurde er durch die Verfilmung seiner Familiensaga »Die Bertinis« bekannt.

1987 erschien sein wohl bekanntestes Buch »Die zweite Schuld oder Von der Last, Deutscher zu sein«, in dem er den Unwillen breiter Teile der bundesdeutschen Gesellschaft enthüllte, sich den NS-Verbrechen zu stellen und die Opfer zu entschädigen, während blutbefleckte Täter und Mitläufer in der Bundesrepublik ihre Karrieren unbehelligt hatten fortsetzen können. Morddrohungen von Neonazis und »alten Kameraden« konnten ihn nicht zum Schweigen bringen. Unbeirrt spürte er auch fürderhin Relikte unseliger Vergangenheit auf. Für ihn gab es in der Geschichte des Deutschen Reiches keinerlei Militärtraditionen, die übernommen werden dürften. »Dass die Bundeswehr sie dennoch auf vielfache Weise in ihre Traditionspflege einbezogen hat, nenne ich: die Traditionslüge«, schrieb er in seiner gleichnamigen Abrechnung mit »Kriegerkult in der Bundeswehr«.

Ralph Giordano war ein anregender wie angenehmer Gesprächspartner, der indes ebenso unerwartet harsche Töne anschlagen konnte, sich für mitunter überzogene Urteile aber auch wieder entschuldigte und Fehlentscheidungen - wie etwa die irritierende Unterstützung für Erika Steinbachs »Zentrum gegen Vertreibungen« - korrigierte.

Ich erinnere mich an einen Disput mit ihm. Er wollte meine Ablehnung der demagogischen (Selbst)Etikettierung des deutschen Faschismus als »Nationalsozialismus« nicht gelten lassen, war darob gar zutiefst empört. »Mir haben nicht irgendwelche ungarischen, spanischen, italienischen oder chilenischen Faschisten die Seele aus dem Leib geprügelt, sondern deutsche Nationalsozialisten«, beschied er mir. Seine Argumentation stimmte mich nachdenklich: »Nicht, weil ich einen sizilianischen Großvater hatte, sage ich: mit Italienern wäre Auschwitz nicht möglich gewesen - die Fahrkarten in den Tod wären nicht exakt abgerechnet worden, Transportzeiten nicht ein- und die ganze Logistik bis vor die Gaskammer nicht durchgehalten worden.« Und doch wollte und kann ich seiner Aufforderung »Also Schluss, endlich Schluss mit ›Faschismus‹ statt Nationalsozialismus, werte Kollegin«, nicht folgen. Er wird mir verziehen haben. Hoffe ich. Und danke, dem streitbaren Geist Ralph Giordano begegnet zu sein.

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