nd-aktuell.de / 13.03.2018 / Kultur / Seite 16

Grüne Impfgegner und Angela Merkel

Michael Butter im Gespräch über die Gefahren von Verschwörungstheorien

Thomas Gesterkamp

Mondlandung und 11. September waren Inszenierungen der US-Regierung, eine »internationale Finanzoligarchie« plant in Europa den »großen Bevölkerungsaustausch«: Wie definieren Sie Verschwörungstheorien wie diese?

Erstens: Nichts geschieht durch Zufall. Es gibt angeblich eine im Geheimen operierende Gruppe, die Verschwörer, die alles, was geschieht, geplant haben. Zweitens: Nichts ist, wie es scheint. Man muss unter die Oberfläche schauen, um die wahren Verhältnisse zu erkennen. Und drittens: Alles, oder fast alles, ist miteinander verbunden; die Einführung des Euro, Gender Mainstreaming und die Flüchtlingskrise erscheinen als Teil eines perfiden Plans.

In Ihrem Buch schreiben Sie, dass der Begriff Verschwörungstheorie zum Teil falsch verwendet wird.

Nicht alles, was so genannt wird, weist die drei Charakteristika auf. Der Begriff kann wissenschaftlich-neutral verwendet werden, aber eben auch als Mittel der Delegitimierung, um unliebsame Gedankengebäude zu disqualifizieren. Kaum jemand bezeichnet sich selbst als Verschwörungstheoretiker, denn das sind immer die anderen. Die englischsprachige Forschung bezeichnet diese Taktik als »Reverse labeling«: Man bedient sich des Etiketts, das die Gegner einem selbst anheften wollen, und tut deren Behauptungen als Verschwörungstheorie ab. Die eigenen Verdächtigungen hingegen werden als wohlbegründet und im Grunde schon erwiesen präsentiert.

Sind Verschwörungstheorien etwas historisch Neues?

Die ersten Verschwörungstheorien entstanden zwischen Früher Neuzeit und Aufklärung. Denn erst da sind die notwendigen Bedingungen gegeben: ein Menschenbild, das Subjekten entsprechende Handlungsfähigkeit zuschreibt, eine lesende Öffentlichkeit, in der solche Theorien zirkulieren können, und der Buchdruck, der es erlaubt, die entsprechenden Texte zu verbreiten.

Sie sind Amerikanist. Gibt es in den USA eine besondere Neigung zu Verschwörungstheorien?

Fakt ist, dass dort mehr Menschen daran glauben als in Deutschland. Aber auch in der europäischen Geschichte gab und gibt es solche Theorien, besonders verbreitet sind sie nach wie vor in Osteuropa. Denken Sie nur an die ungarische Regierung unter Viktor Orbán, die behauptet, der US-Finanzinvestor George Soros wolle Millionen Migranten in Europa ansiedeln, um die »nationale und christliche Identität« des Kontinents auszulöschen. Die Theorie vom Weltenlenker Soros knüpft ganz offen an alte antisemitische Hetzkampagnen an - der Angegriffene ist ja ein in Ungarn geborener Jude.

Das Internet gilt als eine Art Brandbeschleuniger für einfache Welterklärungen. Sind Verschwörungstheorien vor allem ein Netzphänomen?

Nein. Das Internet hat Verschwörungstheorien nur wieder sichtbarer gemacht und dadurch auch zu einem Anstieg an »Gläubigen« geführt. Der ist aber nicht so rapide, wie es uns manchmal vorkommt. Verglichen mit der Zeit vor hundert oder zweihundert Jahren glauben heute eher weniger Menschen an Verschwörungstheorien. Ihre Verbreitung reicht allerdings bis weit in die Mitte der Gesellschaft hinein.

Schaut man auf Netzeinträge etwa zum 11. September 2001, fällt auf, dass überwiegend Männer dazu posten. Sind diese besonders anfällig für abstruse Gedankenkonstrukte?

In der Gegenwart auf jeden Fall. Das liegt daran, dass Verschwörungstheorien einem erklären, warum die Dinge falsch laufen. Und die männliche Identität ist in den letzten Jahrzehnten deutlich heftiger erschüttert worden als die weibliche. Daher neigen momentan insbesondere diejenigen zu Verschwörungstheorien, die Verlustängste spüren und daher auch die populistischen Bewegungen der Gegenwart tragen: weiße Männer über 40. Das ist genau jene demografische Gruppe, die Trump ins Amt gebracht hat und die auch bei Pegida mitmarschiert.

Beeinflussen Verschwörungstheorien die Politik?

In Gesellschaften, in denen Verschwörungstheorien als legitimes Wissen gelten, tun sie das ganz massiv. Sowohl der amerikanische Unabhängigkeitskrieg als auch der spätere Bürgerkrieg wurden zu einem beträchtlichen Teil von solchen Theorien mit verursacht. Die Mehrzahl der US-Präsidenten glaubte daran, von Washington bis Eisenhower. Aber selbst bei uns, wo sie spätestens seit den Erfahrungen im Nationalsozialismus stigmatisiert sind, bleiben sie nicht ohne Effekt. Die Verschwörungstheorien, die unter vielen Pegida- oder AfD-Anhängern verbreitet sind, beeinflussen, wie diese Bewegungen Politik machen und somit indirekt auch den gesamtgesellschaftlichen Diskurs.

Erkennen Sie einen klaren Zusammenhang zwischen Verschwörungstheorien und rechtem Populismus?

Verschwörungstheorien und Populismus haben viele strukturelle Gemeinsamkeiten. Beide vereinfachen zum Beispiel das politische Feld in zwei Gruppen: Volk und Elite beziehungsweise Opfer der Verschwörung und Verschwörer. Letztendlich liefern Verschwörungstheorien nur eine spezifische Erklärung für das Verhalten der Eliten, das der Populismus allgemeiner kritisiert. Die Eliten sind dann nicht nur abgehoben oder individuell korrupt, sondern gleich Teil eines Komplotts. Entsprechend können populistische Bewegungen Verschwörungstheoretiker wunderbar integrieren. Diese stimmen mit den Nichtverschwörungstheoretikern in fast allem überein.

Gibt es auch linke Verschwörungstheoretiker?

Sicher nicht so ausgeprägt wie im rechten politischen Spektrum. Doch in kommunistischen Regimen wie der Sowjetunion und China wimmelt es im 20. Jahrhundert von Verschwörungstheorien. Mal geht es um subversive Kräfte aus dem Aus- und Inland, mal um eine Verschwörung des Großkapitals. Oder diskutieren Sie mal hier im linksintellektuellen Tübingen auf Spielplätzen über die Notwendigkeit von Impfungen! Da schlägt einem ein völlig überzogenes Misstrauen gegen die Ärzteschaft und die Pharmaindustrie entgegen. Mit einer grünen Impfgegnerin zu sprechen, kann genauso anstrengend sein, wie einem AfD-Anhänger ausreden zu wollen, Angela Merkel werde direkt aus Washington gesteuert.

»Alternativen Fakten« aus dubiosen Blogs oder Foren schenken manche mehr Glauben als den Recherchen seriöser Medien, die als »Lügenpresse« beschimpft werden. Was kann man tun gegen Verschwörungstheorien?

Empirische Experimente zeigen: Wenn man überzeugte Verschwörungstheoretiker mit schlüssigen Gegenargumenten konfrontiert, halten sie danach noch fester an ihrem Gedankengebäude fest. Es ist schwer, an wirklich »Gläubige« heranzukommen. Wenn man überhaupt diskutieren will, sollte man sehr niedrigschwellig und eher emotional einsteigen. Oft geht es um Anerkennung, darum, ernst genommen zu werden. Gleichzeitig muss man ansetzen bei den Zweiflern, die noch nicht vollständig von solchen Theorien überzeugt sind, und überhaupt für eine gute Bildung sorgen: Wissen darüber, wie moderne Gesellschaften funktionieren, und Medienkompetenz sind das Allerwichtigste.

Michael Butter: »Nichts ist, wie es scheint«. Über Verschwörungstheorien. Suhrkamp, 270 S. br., 18 €.