Der Gelehrte des Genusses

Zum Tod des Welt- und Seelenreisenden Roger Willemsen

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Der Mensch hat ein grundsätzliches Problem: Er ist ein Neuling in seinem Zeitalter. Daraus erwachsen uns zwei Gaben, der Welt zu begegnen: Erstaunen und Erschrecken. Leben als Verhaltensspannung zwischen Offenheit und Vorsicht. Neugier treibt vor, Angst hält zurück. Und umgekehrt. Roger Willemsen, den Großen, Kräftigen, sah man durch die Welt reisen wie einen bunten Vogel, dessen Flügel im Kopf schlagen - er lebte Höhenflüge einer Einbildung, die das Geringste, Gemeinste, Gewöhnliche in schillerndste Beziehung zum Wunderbaren setzte. Mühelos. Ob er die Bordelle der Welt filmte oder bei Beduinen weilte, ob er Romy Schneider oder Tina Turner porträtierte, ob er mit Mikis Theodorakis dessen Verbannungsinsel besuchte oder mit einem »Kannibalen« ein Restaurant: Willemsen war der leidenschaftlich selbstvergessene (ja, warum nicht: auch locker selbstverliebte) Existenzgalan, der in einem überaus erfolgreichen Buch »Die Enden der Welt« beschrieb; er war ein sinnlichst veranlagter Gelehrter - gegen das unkenntliche Allgemeine setzte er schreibend das konkret Schmeckende, Riechende, Fühlbare einer geradezu ketzerischen Lebensfreude. Er lächelte gern. Ein Romantiker des Wissens, wie vielleicht Novalis. Ein Durchdrungener, kein Durchschauer. Mit Gefühl für Geflecht und Gespinst, wenn er seine Talkgäste im Fernsehen empfing. Mit drei Worten erforschte er deutsche Geschichte, als er die Schauspielerin Marianne Hoppe fragte: »Wie aß Hitler?« In ihrem schulterzuckenden Stottern blinkte die Katastrophengeschichte eines Gewissens auf, ohne dass weiter insistiert werden musste.

»0137« - das war die entscheidende Zahl gegen das Nullachtfuffzehn üblicher TV-Interviews. In seiner Gesprächsreihe auf »Premiere« - Preise über Preise! - befragte Willemsen 1991/92 Menschen von »weit draußen«. Welten des Wahns, der Besessenheit, des Verbotenen. Ein Exorzist, ein Leibwächter Saddam Husseins, ein Inzestopfer, ein Kriegsopfer aus Bosnien. Und ein Mann, der aus dem Gefängnis ausgebrochen war - er wurde nach der Sendung im Studio verhaftet. Oder: ein Mensch, der auf den elektrischen Stuhl wartete; auch eine Ex-Geliebte Fidel Castros, die vom CIA dazu gezwungen werden sollte, den kubanischen Staatschef zu vergiften; die RAF-Häftlinge Dellwo, Folkerts, Taubers und der »Henker von Leipzig« (bis 1980 zwanzig Hinrichtungen durch Genickschuss). Aber im Fernsehen war Willemsen irgendwann ein Partisan der sinkenden Quote, der sich souverän und unbekümmert intelligent seiner »Selbstauflösung entgegensendete«. 1992 hörte er konsequent auf. Er wollte nicht mehr als exotischer Markenartikel eines in die Nacht verbannten Geistes verschlissen werden.

Der Autor, 1955 in Bonn geboren, hatte seine Doktorarbeit über Robert Musil geschrieben. Er sagte: »Ich liebe gute Sätze.« Es hat sich als Glücksfall erwiesen, dass er nicht umhin konnte, auch die eigene Biografie zu durchwandern - etwa in »Der Knacks« und in »Momentum«. Ein Kosmos der Augenblicke aus Kindheitstagen und von Weltreisen, aus Liebesbeziehungen und von Literaturbezauberungen. Ob erster Blick auf ein Meer, ob das Innere einer sizilianischen Dorfkirche, ob das Weinen eines alten Mönches, ob der Geruch eines Mädchens auf einer Rolltreppe, ob ein Museumsbesuch in Addis Abeba: Dieses Buch über die Schäbigkeiten und Beseeltheiten, die Schauerlichkeiten und Großherzigkeiten des Menschen wird vom Gedanken der Liebe zusammengehalten - die Willemsen alles war, nur kein Durchzugsgebiet marodierender Selbstsuche. Als sei noch jede Fensterbeobachtung ein zarter Anklang aller Materie, ein winziges Signal aus der Unermesslichkeit von Raum und Zeit. Das unserem geradlinigen, trist überschaubaren Leben doch erst eine lockende Dimension gibt. Nach wie vor eines der berührendsten Wortspiele des Autors: dass der Mensch, wenn er auf die Straße tritt, nicht nur verunglücken, sondern auch »verglücken kann«. Das kommt nur einem träumerischen Flaneur in den Sinn, der nicht vier, sondern unzählige Himmelsrichtungen kennt.

Der Flaneur focht! Ging mit Dieter Hildebrandt auf sarkastisch deutliche antizeitgeistliche Zornestournee. Und für seinen Report »Hier spricht Guantánamo« interviewte er fünf ehemalige Gefangene des US-Lagers. Das Buch offenbart, dass ausgerechnet das freieste Land der Welt auf »kathartische Orte« (Willemsen) angewiesen ist, deren Notwendigkeit aus einem uralten diktatorischen Prinzip erwächst: Solche Lager dienten seit jeher der Bewusstseinsstärkung des ideologisch ausgerichteten Staates, sie sollen in der Bevölkerung jener fatal beruhigenden Einbildung aufhelfen, es geschehe mit willkürlicher Gefangennahme doch Gerechtigkeit, es werde mit verlässlicher Kraft das Notwendige getan, und das Notwendige sei gleichbedeutend mit dem Guten. Guantánamo als Beleg dauernder Geschichtslogik - was eine Weltmacht für Gedeih hält, ist immer kontaminiert mit Verderb.

»Das Hohe Haus« hieß das bestechende Bundestag(e)buch: In allen Plenarsitzungen des Jahres 2013 saß der Autor auf der Zuschauertribüne. Zwölf Monate Einsamkeit dessen, der gleichsam einer Reptilisierung des parlamentarischen Gebarens ausgesetzt ist: so zahlreiche Schutzpanzer, so elende Echsengeduld beim Desinteresse, so variantenreiche Lauerstellungen im trüben Wasser der Selbstgewissheit und Fraktionskumpaneien. Das Protokoll ist von Wut durchbebt, von sarkastischem Witz umbettet, von essayistischem Esprit getragen. Willemsen sieht hinab ins Plenum und entdeckt: »Es gibt Menschen, die laufen herum, und ihr Gesicht will nirgends hin als ins Bett.« Wenige Abgeordnete mit einem eigenen Herzschlag, einem eigenen Puls. Aber es lebt Hoffnung im Buch: Parlament, das könne wieder sein, was es vielleicht nie war - ein wirkliches, verlässliches Kontrollorgan der Regierung, und nicht nur deren verlängertes Beifallsorgan.

Vor zwei Jahren hatte ich die Gelegenheit eines nd-Gesprächs mit Willemsen. Er erzählte ganz nebenbei, außerhalb des Interviews, von seiner früheren Angewohnheit, sich ohne konkrete Absicht in Wartezimmer von Krankenstationen zu setzen und einfach nur zuzuhören, worüber die Leute sorgenvoll reden. Das ist Nächstenliebe, hinübergerettet in ein Öffentlichkeitsgemüt. An allen Prominenten, die er in seinen Gesprächssendungen (»Willemsen«, »Willemsens Woche«) zu Gast hatte, bewegte ihn das »größte soziale Moment, das uns prägt: die Enttäuschung«. Sie ist die psychisch folgenreichste Erfahrung, mit der keine politische Richtung wirklich umgehen kann. Und plötzlich sagte er, er müsse mal wieder was über Tiefsee-Botanik lesen, denn »ich habe viel zu lang die Einzeller und die Kalkmuscheln vernachlässigt«. Und der publizistische Allrounder sprach von seiner »reporterischen Energie«, und wie löblich sein Gemüt auf zu viel Tempo reagiere. »Mitten in einer Beschleunigung kommt mir, zum Beispiel, Gottfried August Bürgers ›Leonore‹ in den Sinn oder ein anderes schönes Gedicht, und ich verlasse den Raum so schnell, wie andere auf die Toilette müssen - und draußen dann müssen die Verse raus, und ich denke erleichtert und zornig zugleich: Mensch, Roger, du Idiot, was soll diese ewige Hatz?!«

Dann meinte er, er habe gleich den nächsten Termin, aber vorher müsse er Musik hören. John Coltrane. Er griff zu einer CD. »My Favorite Things.« Ich packte mein Aufnahmegerät ein und kam mir im Hotelzimmer am Potsdamer Platz etwas verloren vor, denn Willemsen hatte keine Scheu vor dem Eindruck, er sei jetzt ganz woanders. »Ich kann ohne Jazz nicht leben.« Später las ich in seinem Essayband »Nur zur Ansicht« die Schluss-Sätze seines Coltrane-Porträts. Jedem Ton habe der Sopransaxophonist seinen Atem gegeben. Und als Coltrane starb, »möchte man sich vorstellen, dass der letzte Atemzug geklungen hat wie eines jener ganz verinnerlichten Stücke auf den letzten Platten, lange verschlungene Reisen ins Unerhörte, in denen die Musik manchmal nur noch große Atemzüge tut, ganz, als sterbe sie auch.« Wie Sprache sterben kann. Wenn Menschen gehen, in denen sie eine grandios perlende Quelle hat. Nun ist Roger Willemsen, im Alter von sechzig Jahren, gestorben.

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