nd-aktuell.de / 13.02.2016 / Kultur / Seite 22

Nur immer Mut!

Steffen Martus erzählt Aufklärungsgeschichte wie einen spannenden Roman

Gunnar Decker

Handeln wir allein schon deswegen richtig, weil wir wissen, was hier und jetzt richtig wäre? Nein, nicht immer schützt Wissen darum, was richtig wäre, vor der begangenen Torheit - was beweist, dass der Mensch nicht allein aus Vernunftgründen heraus handelt. Er muss es eben auch wollen! Und da wird es sofort kompliziert: Geist und Natur, Verstand und Trieb geraten nicht nur in Widerspruch, oft auch in heftigste Kämpfe. Das Ergebnis ist durchaus eine Warnung: Es gibt eine Freiheit zum Bösen!

Wir erleben das in einer Gegenwart, die von Terror und Angst immer mehr beherrscht wird, wo eine Minderheit wahllos Unschuldige tötet, um so ein verhasstes System - das westliche - zu destabilisieren. Offenbar mit Erfolg, denn die Angst vor Angriffen aus dem Dunkeln lässt uns immer mehr Dinge verabschieden, die doch zu den Grundsätzen der Aufklärungskultur gehören: das Recht, einen Gott zu leugnen, die Freiheit, sich auch mittels Pamphlet, Polemik oder Karikatur gegen die Zumutung zu wehren, einen solchen im öffentlichen Raum widerspruchlos angebetet zu sehen. Religionskritik ist ein unverzichtbarer Teil einer Kultur, die nicht nur in der Tradition der Aufklärung steht, sondern Aufklärung auch als ein gegenwärtiges Prinzip versteht. Attackiert die angemaßten Autoritäten, die sich nicht auf Vernunftgründe stützen, sondern Unterwerfung verlangen!

Ebenso konstitutionell für die Aufklärung ist aber auch die Toleranz: Es könnte immer auch sein, dass ich irre und der andere recht hat! Wahrheit darf nicht in Besitz genommen und verkündet, sondern muss immer neu gesucht werden, eingedenk der Tatsache: Etwas ist, wie es ist - aber das Gegenteil davon kann ebenso gedacht werden. Das erst schafft jene geistige Atmosphäre, in der freie Geister leben können.

Steffen Martus, geboren 1968 und Professor für neuere deutsche Literatur an der Humboldt-Universität, hat auf immerhin gut tausend Seiten der Frage nachgedacht, was Aufklärung eigentlich sei. Ist das originell, kann man hier unerwartete Entdeckungen machen? Ja, man kann, denn Martus vereint alle guten Eigenschaften der Aufklärer des 18. Jahrhunderts, die sich zuerst als Schriftsteller sahen, die gelesen werden wollten. Die Überzeugungskraft ihrer Texte sollte nicht nur Fachkollegen, sondern alle interessierten Leser erreichen. Darum scheuten sie auch vor publizistischen Kampfschriften, Ausflügen in Parodie, Glosse oder Persiflage nicht zurück.

Auch Martus sucht - und findet - einen sehr persönlichen Stil. So stehen die tausend Seiten nicht als professorales Bollwerk einer mit dem Anspruch der Vollständigkeit auftretenden Vielwisserei vor uns, sondern als eine uns zum Mitdenken einladende Reise durch die Kulturgeschichte vor allem des 18. Jahrhunderts und ihrer Auseinandersetzungen. Keine bloß geistreiche Plauderei, verleugnet er sein ernstes Thema doch nie, ohne es darum zu ernst zu nehmen, denn geistige Auseinandersetzung unter freien Geistern bleibt immer auch ein Spiel.

Was konnte die Aufklärung bewirken, die Europa seit Mitte des 17. Jahrhunderts darauf trainiert hat, Gegensätze mittels Vernunftgründen zu begreifen und - nicht nur im oberflächlich-diplomatischen Sinne, sondern wesentlich - zu vermitteln? Vieles, denn Aufklärung meint nicht nur eine historische Epoche, sondern ein Denk- und Lebensmodell, das sich heute wie vor über dreihundert Jahren von religiösem und ideologischem Fanatismus bedroht sieht. Wir stehen heute wieder, wie mehrfach schon in Europas Geschichte, an einer Schwelle: Mit welchen Mitteln sollen Interessenkonflikte gelöst werden?

Zweifellos, wir befinden uns in einem Kulturkampf, einem Kampf um die Kultur des Miteinander-Umgehens. Darin geht es nicht nur um die Freiheit zur Selbstbestimmung jedes Einzelnen, sondern auch um das, was den Reichtum einer Gesellschaft überhaupt ausmacht, einen Reichtum, den die Epoche der Aufklärung uns als Anspruch hinterlassen hat: die Trennung von Staat und Kirche, die Fähigkeit zur öffentlichen Kritik, die Berechenbarkeit juristischer Verfahren, das Wissen um eine Moral jenseits der Sphäre des Religiösen.

Aber auch das: gesellschaftliche Ausgleichformen zwischen Regierenden und Regierten, zwischen Arm und Reich ständig zu erneuern. Denn ein Ziel der Aufklärung war immer: Jedes Mitglied des Gemeinwesens soll Zugang zu Bildung und Kultur bekommen, denn mündig kann nur ein Staatsbürger sein, dem sein täglicher Existenzkampf noch Raum und Zeit lässt, an öffentlichen Belangen sachkundig teilzuhaben. Uns droht im Bereich der Bibliotheken und Museen, der Schulen und Universitäten ebenso wie der Theater ein Kahlschlag! Von allzu vielen für die Kultur zuständigen Politikern, denen es selbst jedoch offenbar an Kultur mangelt, wird diese bloß als einzusparender Kostenfaktor angesehen. So hat diese Gesellschaft ein gravierendes Problem: Sie steht vor der Unmöglichkeit, ihre Aufklärungsgrundsätze überhaupt noch beispielhaft vorleben zu können. Da bedarf es gar nicht erst der Gefahr eines islamischen Fundamentalismus, wenn kommunale und Landespolitiker diese Zerstörung selbst organisieren, wie derzeit auf fassungslos machende Weise in Mecklenburg-Vorpommern zu besichtigen ist.

Sympathisch in Steffen Martus’ Aufklärungeschichte ist bereits der Zugang zum Thema Aufklärung, den der Autor naheliegender Weise über Immanuel Kants berühmte Antwort auf die Frage »Was ist Aufklärung?« wählt. Hier erlebte der sonst eher trockene (Nietzsche nannte Kant einen »Begriffskrüppel«) Philosoph einen stilistischen Höhenflug. Diese Sätze sind auf so wahre Weise schön, dass man sie gar nicht oft genug wiederholen kann: »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht im Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.«

Martus bemerkt hierzu in salopper Süffisanz: »Kant erwies sich als begnadeter Werbetexter.« Darum jedoch ging es ihm eigentlich nicht. Wer wirbt, will etwas verkaufen, eine Marke kreieren, die höchste Preise und ebensolchen Absatz garantiert. Kants Anspruch der Vernunft jedoch scheint frei von solcherart vordergründiger Eitelkeit des glanzvollen Auftritts: Ihm ist es ernst. Nicht derjenige, der am meisten Wissen zusammengesammelt hat, darf sich ein Aufklärer nennen, sondern nur jener, der die Charakterstärke besitzt, seiner Zeit und deren Repräsentanten in eigenem Namen unangenehme Dinge zu sagen, die vernünftig sind! Was Kant mit diesem Aufsatz geradezu beschwört: Ihr könnt noch so viel Verstand haben, aber wenn ihr zu feige seid, nützt er euch nichts, im Gegenteil, denn Verstand bei Kreaturen zeugt nur immer wieder Dämonien der Unfreiheit.

Kant fällt aus der Reihe vieler gutmeinender Aufklärer des 18. Jahrhunderts heraus, die sich als säkulare Vernunftprediger verstehen, er befremdet vielmehr seine Zeitgenossen. Denn zu gut weiß er um das »krumme Holz«, aus dem der Mensch geschnitzt ist, wie Martus feststellt: »Das intellektuelle Leitbild der Aufklärung war die offene Bewegung des Spaziergangs in anmutiger Umgebung, dasjenige der Kant’schen Philosophie die akkurat geplante Reise auf ›dornichtem Weg‹«.

Martus reist schreibend tatsächlich von Ort zu Ort, von Leipzig über Halle, nach Hamburg, Wolfenbüttel oder Königsberg. Wenn er über die »Modestadt Leipzig« schreibt oder über die Stiftungen des Pietisten Francke in Halle, dann bleibt das Gelesene auf sinnliche Weise vorstellbar, entschwebt nicht in die Regionen der begrifflichen Abstrakta, an denen das 18. Jahrhundert reich war. Insofern ist dieses umfängliche Buch zum einen so etwas wie barocke Wunderkammer, zum anderen bereits Urania-taugliches Basiswissen für den zu bildenden Zeitgenossen. Das gilt es ihm wieder ins offenbar durch die Übermacht der Gegenwart und ihrer Ablenkungsmöglichkeiten schwächer werdende Gedächtnis zu rufen. Doch Appelle allein nützen nichts, auch das ist eine Erfahrung, die die Aufklärung machen musste. Das Grundgefühl, dass hier geistige (Über-)Lebenswerkzeuge für jedermann zur Verfügung stehen, muss sich anders herstellen: Aus einer inneren Orientierungsnot in dieser Welt, der drohenden Ohnmacht, nicht mehr durchzublicken in der verwirrenden Vielzahl von Welterklärungsangeboten! Nur wer denkt, um sich selbst zu retten, denkt wesentlich.

Besonders freute mich bei der Lektüre, dass mit Thomasius und Pufendorf auch jene Denker vorgestellt werden, die aus der Sphäre der Theologie heraustraten und als erste die Grundsätze der autonomen Rechts- und Sittenlehre formulierten. Das bürgerliche Vertragsrecht ist, wie man hier nachvollziehen kann, keineswegs ein angelsächsisches Geschenk, eine vorgeblich notwendige Abkühlung des deutsch-metaphysischen Tiefsinns von außen, wie oft behauptet wird, sondern hat sich selbst aus dem Wust theologischer Bevormundung herausgekämpft. Oder wie Martus schreibt, Pufendorf habe sich als erster auf die »postparadiesische Triebnatur« des Menschen eingelassen. Von solchen Horizonte aufschließenden Formulierungen ist diese frappierend frisch daherkommende Aufklärungsgeschichte randvoll.

Steffen Martus: Aufklärung. Das deutsche
18. Jahrhundert. Ein Epochenbild.
Rowohlt. 1040 S., geb., 39,95 €.