Lob der Übung

Die Errungenschaften der modernen Technik lassen uns Wichtiges verlernen

  • Wolfgang Schmidbauer
  • Lesedauer: 4 Min.

Viele Dinge, mit denen wir uns umgeben, schwächen unsere Möglichkeiten, einsichtig zu handeln, gesund zu bleiben und unsere Intelligenz zu trainieren. Sie rauben uns die tägliche Übung, ohne die unser Körper ebenso wie unsere Psyche an Kraft verlieren. Waren können Kreativität, Einsicht und handwerkliche Fertigkeiten nicht ersetzen. Wenn sie es versuchen, rauben sie uns kostbare Trainingsmöglichkeiten. Wer Produktentwicklungen verfolgt, erkennt zwei Götzen, denen sie sich unterwerfen: Zeitersparnis und Atrophie von Muskulatur und Sinnestätigkeit. Dieser Raub an Lebenswichtigem wird durch das Versprechen begründet, wir hätten durch diese Erleichterungen »Zeit gewonnen«. Zeit wofür? Gesunde Menschen werden so lange wie Behinderte behandelt, bis sie tatsächlich behindert sind.

Wer lernt, ein Auto zu schalten, braucht kein Automatikgetriebe; er gewinnt dieser Tätigkeit oft das Gefühl eines engeren Kontakts zu seinem Fahrzeug ab. Wer aber von Anfang an das Fahren mithilfe eines automatischen Getriebes erlernt, findet es »gefährlich«, zu dem handgeschalteten Auto zurückzukehren. Der Schaltvorgang strengt ihn an, lenkt ihn ab, ist unbequem.

Wer erst einmal anfängt, diese manuellen Beraubungen zu erforschen, findet viele Beispiele. Es ist eine gute Übung von Aufmerksamkeit und Konzentration, ein Steuer kurz loszulassen, um etwas anderes zu erledigen. Aber die technische Entwicklung sucht nach Lösungen, die solche Übungen unterbinden. Bei den alten Flinten musste ein Hahn gespannt und dann der Abzug betätigt werden; bei den neuen geht das automatisch. Den alten Abzug konnte der Jäger meist selbst einstellen und reparieren; beim neuen ist das Spezialistensache. Bei den frühen Schaltungen am Fahrrad musste man den Lenker loslassen, um den Gang zu wechseln; heute sind die entsprechenden Hebel als Drehgriffe angelegt, obwohl das technisch störanfälliger und teurer ist. Die Handkurbel, um ein Auto anzuwerfen, der Trethebel, mit dem ein Motorrad gestartet werden kann - sie alle wurden durch »bequemere« Lösungen ersetzt, die uns nicht nur einer Möglichkeit zur körperlichen Tätigkeit berauben, sondern uns von zusätzlichen Energiequellen abhängig machen.

Die Konstrukteure rechtfertigen das damit, dass der Markt über solche Fragen entscheidet. Abgesehen davon, dass sich mit diesem Argument auch der Verkauf von Heroin rechtfertigen lässt, entscheidet der Markt nur so lange für den Raubbau an natürlichen Rohstoffen und menschlicher Gesundheit, wie die Folgen dieser Entscheidungen nicht umsichtig dem Produzenten aufgebürdet, sondern von einer Allgemeinheit getragen werden, welche die langfristigen Folgen dieses Wachstumswahns von Konsum und Komfort nicht erkennt.

Handwerk ist Hingabe an eine Sache um ihrer selbst Willen. Wer eine Fertigkeit übt, wird in der Regel nur den Beginn mühsam finden. Je besser er beispielsweise ein Musikinstrument beherrscht, desto mehr Freude macht es ihm, damit zu üben und noch besser zu werden. Die Übung des eigenen Könnens ist immer Schwankungen unterworfen; es gibt gute und schlechte Tage, es fließt oder stockt. Gerade aus diesen Schwankungen lernt der Handwerker, die eigene Tätigkeit genauer wahrzunehmen. Je mehr es dem Handwerker - also auch dem Künstler, dem Arzt, dem Lehrer oder Anwalt - gelingt, seine Tätigkeit geistig zu besetzen, sie um ihrer selbst Willen zu leisten, sich in ihr wahrzunehmen und zu entwickeln, desto weniger ist er von jenen Formen einer beruflich geprägten Depression beeinträchtigt, die unter dem Begriff des Burn-out inzwischen zu einer Modekrankheit geworden sind.

Als ich jung war, konnte ich auf das gelungene Schalten des unsynchronisierten Getriebes (mit Zwischengas) vielleicht so stolz sein wie ein junger Mann heute auf eine App auf seinem Smartphone, mit der er jederzeit die Heizung in einem Wochenendhaus regeln kann.

Es geht also um den Unterschied zwischen der Übung, die in den Dingen selbst wurzelt und von ihnen ausgeht, gegenüber einer Übung, in die der Konsument nur dann gerät, wenn er das will. Er muss sich entscheiden, sich in ein System vertiefen, das er genauso gut ohne jedes Verständnis bis in die hilflose Abhängigkeit hinein nutzen kann.

Der Computer steht für einen Scheideweg. Er kann zu unserer Kompetenz in der Bewältigung unseres Lebens beitragen, aber er kann uns auch Kompetenzen nehmen. Er fordert Entscheidungen. Wer die Psyche des Menschen im 21. Jahrhundert kennt und sich mit ihren Überlastungen beschäftigt, der ahnt auch, dass Entscheidungen Freiheitsgefühle vermitteln, aber uns auch vielfach überfordern und unter Stress setzen. Eine krankmachende Umwelt fordert Entscheidung und freiwilligen Verzicht, um gesund zu bleiben. Eine intelligente Umwelt führt uns mit sanftem Zwang in die Übung unserer Kräfte und Fähigkeiten. Wer fürchtet, bildschirmsüchtig zu werden, kann gute Vorsätze fassen. Oder wir spendieren ihm die richtige Umwelt: erst wenn er die nötige Elektrizität mithilfe eines Fahrradgenerators produziert, wird der Bildschirm hell.

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