nd-aktuell.de / 26.02.2016 / Kultur / Seite 15

Der doppelte Schluss

Alfred Döblin, der Westen, der Osten und die Geschichte des Hamlet-Romans

Klaus Bellin

Die ersten Seiten seines letzten Romans schrieb er im August 1945 noch in Hollywood. Im Oktober 1946 war das Buch fertig. Alfred Döblin hatte inzwischen die USA verlassen und lebte nun in Baden-Baden. Er hatte dort eine Zeitschrift gegründet, »Das Goldene Tor«, und er suchte verzweifelt nach einem Verlag für sein im Exil entstandenes Riesenopus »November 1918«, eine Saga über die Revolution, die im vierten (und letzten) Teil die Geschichte Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts erzählt. »Es ist ein Unglück mit diesem umfangreichen Werk«, schrieb er 1949. Im Jahr darauf erschienen wenigstens drei Bände. Den Schlussteil hatte man vorsichtshalber weggelassen. Der amputierte Roman bescherte ihm einen eklatanten Misserfolg. »Döblin«, wird Günter Grass 1967 sagen, »lag nicht richtig. Er kam nicht an … Soweit die Marktlage: Der Wert Döblin wurde und wird nicht notiert.«

Um seinen »Hamlet« hatte er sich so lange nicht gekümmert. Und nun war es zu spät. Kein westdeutscher Verlag war bereit, ihn zu drucken. Die Rettung, unverhofft, kam aus dem Osten. Im Herbst 1954, als Peter Huchel, Eberhard Meckel und Hans Mayer den Kranken in einer badischen Klinik besuchten, kam die Rede auch auf das Manuskript, aus dem noch immer kein Buch geworden war. Die Gäste versprachen Hilfe, und sie hielten Wort, auch wenn sich die Dinge dann hinschleppten, weil westdeutsche Autoren in der DDR auf politische Skepsis stießen. Nach einer Leseprobe in »Sinn und Form« erschien der Roman im September 1956 bei Rütten & Loening in Berlin.

»Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende« ist ein Alterswerk, fantastisch und suggestiv leuchtend, ein raffiniert geschnürtes Bündel bunter Erzählungen, das noch einmal Döblins epische Kraft demonstrierte. Das Buch handelt vom schwerverletzten Kriegsheimkehrer Edward Allison, der mit den Werten, die seinen Eltern immer als Maßstab dienten, nach den Erfahrungen der letzten Jahre nicht mehr zurecht kommt und, wie Hamlet besessen von der Frage nach der Wahrheit, die Familie aus ihrer Sicherheit, den schützenden Mauern, Selbsttäuschungen und Illusionen reißt. Es geht um den Krieg, um Verantwortung, Menschlichkeit und die Schuld der Väter. Hinter der bröckelnden Fassade werden dabei die Abgründe sichtbar, die Kompromisse, Lügen, Masken. Döblin hat diese Wahrheitssuche aus lauter Erzählungen zusammengesetzt, Geschichten, mit denen man sich abends im kleinen Familienkreis unterhält und die unversehens in geistige und seelische Kämpfe, in Abgründe und zu Katastrophen führen. Zugleich aber ist dies auch der Roman einer Heilung, gesättigt mit mythischen und psychoanalytischen Bezügen. Zuletzt, wenn die Eltern tot sind, wird sich Allison, nunmehr genesen, befreit vom »Hamlet-Spuk«, zu diesem »ungeheuren Leben« bekennen. Das väterliche Erbe verschenkt er an die Krankenkassen der Armen, behält nur das Notdürftige, und Döblin schließt seine Geschichte mit dem Satz: »Ein neues Leben begann.«

Der Roman, seit der Erstveröffentlichung in allen Ausgaben so gedruckt, ist soeben als Band 19 der großen (im Umfang und Preis gegenwärtig konkurrenzlosen) Taschenbuchedition des S. Fischer Verlages erschienen, von der Pressestelle mit einem Begleittext verschickt, der, unübersehbar, gleich auf das Besondere dieser Ausgabe hinweist: »Erstmals in der ursprünglichen Fassung!« Hinten, im Anhang mit Nachwort, editorischer Notiz und Daten zu Leben und Werk Döblins, berichtet Christina Althen, die den Band gemeinsam mit Steffan Davies herausgegeben hat, wie sie 2011 im Archiv der Akademie der Künste in Berlin die verschollenen Unterlagen der Erstausgabe entdeckte und der Fund ihr bestätigte, was Döblin-Forscher schon sehr lange wussten, ohne dass der Text je bekannt wurde: Der Autor hatte seinen Helden am Ende nicht in ein neues Leben, sondern in ein Kloster geschickt. Bei Rütten & Loening, schreibt Althen, habe es gegen diese Lösung aber Vorbehalte gegeben, und Döblin habe »der Aufforderung zur Abfassung eines neuen Schlusses« schließlich entsprochen, »tat sich aber schwer damit«.

»Aufforderung« steht da, tatsächlich. »Döblin wurde gezwungen«, erklärt auch das Begleitschreiben des Verlages. Wahr ist: Wolfgang Richter, der Cheflektor bei Rütten & Loening, hat sich nach dem Urteil Peter Huchels für eine »umgehende Drucklegung« des Romans eingesetzt. Er war begeistert. Nur dass Allison sich am Ende von der Welt abwendet und in ein Kloster zurückzieht, erschien dem Verlag unlogisch, als eine »Flucht vor der Verantwortung«. Diese »pessimistische und hoffnungslose Lösung«, meinte Richter, widerspreche »der Gesamttendenz Ihres Romans«, und er schrieb am 31. August 1955 an den Autor: »Bitte, verehrter Herr Dr. Döblin, prüfen Sie doch noch einmal die Möglichkeit eines anderen Schlusses und teilen Sie uns Ihre Entscheidung mit.«

»Verehrungsvoller und mit mehr Takt«, heißt es dazu im Katalog der großen Döblin-Ausstellung von 1978 in Marbach am Neckar, »hätte wohl niemand diesen Wunsch vorbringen können. Wie sehr Döblin solche Töne entbehrt haben mag, ermißt man, wenn man sich an manchen im Nachlaß Döblins erhaltenen Briefen vor Augen führt, welchen Ton Lektoren des einen oder anderen westdeutschen Winkelverlages in den fünfziger Jahren gegenüber einem der großen Erzähler der Epoche glaubten anschlagen zu dürfen. Aber auch der Inhalt dieses Briefes traf offenbar auf einen wiederum gewandelten, verständnisbereiten Autor. Wenige Tage, nachdem Döblin den Brief Wolfgang Richters erhalten hatte, diktierte er seiner Frau die Konzeption der Neufassung des Romanschlusses.«

Diese Konzeption belegt, dass er inzwischen über seinen Helden anders dachte. Es bestehe kein Grund zur Annahme, äußerte er jetzt in der Notiz zum neuen Schluss, dass sich Allison verzagt von der Welt abwende. »Im Gegenteil: jetzt ist in ihm ein ungewohnt glücklicher und freudiger Ton …, ein Wille zur Aktivität. Er wird weltoffen … Also der Abschluß im Stil der früheren Kapitel hymnisch und freudig, auch gegenüber der Natur.«

Döblin, der sich, zutiefst enttäuscht, in der Bundesrepublik »überflüssig« vorkam und seit Ende April 1953 in Paris lebte, hatte für die DDR nichts übrig. Aber dass ein DDR-Verlag ihm die Chance bot, seinen letzten, inzwischen zehn Jahre alten Roman noch zu Lebzeiten herauszubringen, sah er als ein »ungemein bewegendes Zeichen«, und er hat die Änderung des Schlusses, schreibt Wilfried F. Schoeller in seiner großen Döblin-Biografie (Carl Hanser 2011), »durchaus mit Freuden besprochen. Wilhelm Hausenstein, damals bundesdeutscher Botschafter in Paris, hat sie gekannt und gebilligt, ebenso Robert Minder« (der Freund, der auch die abschließenden Korrekturen übernahm).

Seine letzte Zeit verbrachte Döblin in Kliniken und Sanatorien des Schwarzwalds. Er starb am 26. Juni 1957 in Emmendingen. Kurz darauf, Anfang Juli, schrieb Erna Döblin (die sich Wochen nach dem Tod ihres Mannes in Paris das Leben nahm) an Peter Huchel: »Wie gut war es, daß Sie damals nach Friedenweiler kamen, sonst läge noch heute der ›Hamlet‹ im Schubkasten.« Schon vorher, am 14. Februar 1957, hatte sie in einem Brief an den Döblin-Bewunderer Harald Kohtz bekannt, wie glücklich sie beide waren, »als September 1956 das Buch nun wenigstens im Osten erscheinen konnte. Rütten & Loening hat sich ausgezeichnet bewährt, das Buch wird im Osten gut verkauft, auch bereits ins Italienische übersetzt. Ohne die erheblichen Summen, die nun zuflossen, hätte ich nicht gewußt, wie ich die hohen Krankenkosten hätte decken sollen. Richtig ist leider, daß der Westen weiter versagte, sowohl das Sortiment wie auch die Zeitungen.« (Eine westdeutsche Lizenzausgabe erschien nach einem Jahr bei Langen-Müller in München.)

Die Herausgeber der neuen Edition in der Reihe Fischer Klassik bringen den Roman jetzt mit dem ursprünglichen, wie sie meinen: eigentlichen Schluss, als müsste man die Entscheidung Döblins, seiner Geschichte eine andere Wendung zu geben, nachträglich widerrufen. Die entsprechenden Seiten der Erstausgabe, von Rütten & Loening ja angeblich erzwungen, sind in den Anhang verbannt worden. Zu befürchten ist, dass sich diese Lesart, den überlieferten Fakten zum Trotz, mühelos durchsetzen wird.

Alfred Döblin: Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende. Hg. von Christina Althen und Steffan Davies. Fischer Taschenbuch. 639 S., br., 14,99 €.