nd-aktuell.de / 27.02.2016 / Kultur / Seite 32

Artig, ausgeflippt, angepasst

In der bürgerlichen Demokratie ist die homosexuelle Emanzipation vielen Widersprüchen ausgesetzt. Darum kann eine rechtliche Angleichung nur teilweise gelingen

Christian Baron

Die besten Gespräche entstanden am Frühstückstisch. Beim zweiten oder dritten Kaffee angekommen, hatten George und Jim oft schon über alles gesprochen, was ihnen durch den Kopf ging - häufig auch über den Tod, das Leben davor und die Frage, was danach kommen mag: »Nur kann George sich beim besten Willen nicht mehr erinnern, was Jims Ansichten dazu waren. Wer nimmt solche Überlegungen schon ernst?« So schildert Christopher Isherwood in seinem autobiografisch gefärbten Roman »Der Einzelgänger« die Reminiszenz des schwulen Uniprofessors George Falconner an Jim, mit dem er in den USA jahrelang zusammenlebte - bis dieser bei einem Autounfall ums Leben kam.

Isherwoods Buch erzählt einen Tag im Leben seiner Hauptfigur acht Monate nach Jims Tod im Jahr 1962: George ist depressiv und bereitet seinen Suizid vor. Nicht in erster Linie aufgrund seiner Trauer, sondern weil es ihm gesellschaftlich verboten ist, um den wichtigsten Menschen in seinem Leben zu trauern. Die Familie des Verstorbenen schließt ihn vom gemeinsamen Umgang mit dem Verlustschmerz aus. Seine Liebe konnte er ohnehin nie offen ausleben, weil offiziell niemand von der Liaison wissen durfte und darf. George fühlt sich seiner Geschichte, ja seiner Biografie beraubt, deren fundamentaler Teil dieser Jim gewesen ist.

Heute wäre das in den Metropolen der Vereinigten Staaten und der meisten westeuropäischen Länder anders. Homosexualität ist hier sozial weithin toleriert und gesetzlich legitimiert. Und trotzdem hätte es George Falconner in diesen Tagen nicht weniger schwer. Das sagt zumindest der Publizist und Sozialarbeiter Tjark Kunstreich, der in einem Debattenband über die »Dialektik der Abweichung« das »Unbehagen in der homosexuellen Emanzipation« analysiert: »Tatsächlich empfinden es nicht wenige Schwule und Lesben nun als schwieriger, sich in der Öffentlichkeit mit dem oder der Geliebten in offener Zuneigung zu zeigen, als in Zeiten, in denen die Reaktionen sehr viel vorhersehbarer waren.«

Kunstreich sieht ein »Assimilierungsparadox«, das der liberalkapitalistischen Gesellschaft inhärent sei. Es mache »jede Bemühung um Anerkennung zur Farce, weil die Angleichung nie vollständig sein kann, ohne die eigene Differenz völlig aufzugeben: Die Gesellschaft, die ihre Minderheiten in unterschiedlichem Maße zur Abgrenzung und Selbstverständigung braucht, verweigert sowohl die Assimilation wie die Möglichkeit, mit der Differenz gleichberechtigt in ihr zu leben.« Ein demokratisch verfasstes, aber der Jagd nach Profit unterworfenes Sozialwesen, das einen abweichenden Lebenswandel zunehmend tolerieren muss, findet also immer Wege, dieses Verhalten für die eigenen Belange zu vereinnahmen.

In seinen Essays, die überwiegend auf akademischen Vorträgen beruhen, verzichtet Kunstreich zur Illustration seiner Thesen leider weitgehend auf popkulturelle Beispiele, wie es sie vor allem im Kino haufenweise gibt. Insbesondere ein deutscher Film aus dem Jahr 2014 taugt als Exempel für den Kulturalismus, der die homosexuelle Emanzipation auf halbem Wege aufhielt, indem er das Klischee vom reichen Lifestyleschwulen verabsolutierte. Das an den Kinokassen erfolgreiche, aber inhaltlich wie ästhetisch indiskutable Machwerk trägt den Titel »Coming In«.

Wer sich diesen Film auf der großen Leinwand angesehen hat, dürfte ein gesellschaftlich hoffähiges Schauspiel erlebt haben, das sich auch dem Autor dieser Zeilen bot: Die Szene zu Beginn, in der Tom Herzner seinen Freund Robert küsst, quittierten viele im Saal mit lauten »Igitt«-Rufen. 100 Minuten später durften diese Dumpfbacken das Lichtspieltheater dann doch noch glücklich verlassen, denn natürlich verwehrte Regisseur Marco Kreuzpaintner seinem Publikum nicht das Recht auf ein vorhersehbares Happy End, in dem der Protagonist seine sexuelle Vorliebe wechselt und sogar einen Kinderwunsch äußert.

Zu Anfang ist Tom noch ein schwuler Nobelfriseur aus Berlin-Mitte, der sich in den proletarischen Teil von Neukölln begibt, um in einem unscheinbaren Frisiersalon die kopfkünstlerischen Vorlieben der einfachen Frau auf der Straße zu studieren. Dabei verliebt er sich in die mittellose Heidi, was der schwul-pompösen Prosecco-Schickeria übel aufstößt. Sie will Tom nicht an dieses Arbeitermädel verlieren und appelliert an seine schwule Ehre. Vergeblich, denn die poetische Gerechtigkeit des tumben Drehbuchs sieht vor, dass Tom seine Heidi aus den Fängen des gewalttätigen Unterschichtsheinis Didi befreit und die hippen Homos für ein angepasstes Leben mit Frau, Baby und Reihenhaus abserviert.

Zwischenräume gibt es hier nicht: Entweder man(n) ist ein harter Hetero oder ein schwülstiger Schwuler. Eiskalt führt dieser als Komödie etikettierte Film vor, wie die kapitalistische Gesellschaft ihre Nicht-Heterosexuellen am liebsten hat: Mit gutem Geschmack und smartem Geschäftssinn erarbeiten sie sich im Gegensatz zur vermeintlich faulen Unterschicht ein unabhängiges Leben, in dem man bei entsprechender wirtschaftlicher Fortune ausgeflippte Partys feiern darf - und soll, damit die bunt bleibende Großstadt weiterhin Touristen anzieht. Bürgerliche Bedürfnisse wie Ehe, Adoption und Familie sollen demnach aber unbedingt eherne Hetero-Privilegien bleiben.

Im gleichen Jahr, in dem »Coming In« die Massen ins Kino lockte, gründete sich im Münsterland eine namentlich nicht zufällig an Fremdenfeinde erinnernde Bewegung namens »Besorgte Eltern«, die seither bundesweit gegen den Plan einiger Landesregierungen protestiert, sexuelle Vielfalt in die Lehrpläne an Schulen aufzunehmen. In schriftlichen Statements formuliert sie ihre »Angst vor einer Frühsexualisierung der Kinder« und verteidigt die klassische Familie als »Keimzelle, Rückgrat und Leistungsträger (sic!) der Gesellschaft«.

Auch in Frankreich und anderen europäischen Ländern verbinden Gegner einer Öffnung bürgerlicher Domänen für Homosexuelle die Biologie mit der Ökonomie. Fast immer sind es - wie bei der Hetze gegen Flüchtlinge - gut situierte Menschen, die ihre Angst vor dem zur realen Möglichkeit avancierten sozialen Abstieg zu kanalisieren trachten durch ein verzweifeltes Klammern an alte Institutionen jenes rheinischen Kapitalismus, den es nicht mehr gibt. Bei »Besorgten Bürgern« ist es der Wunsch nach einem klar eingegrenzten Nationalstaat, bei den »Besorgten Eltern« ist es die Sehnsucht nach der heilen Vater-Mutter-Kind-Welt.

Längst ist das Normalbeschäftigungsverhältnis nicht mehr die Regel, Staatsangehörigkeiten können sich günstigenfalls ebenso ändern wie das Geschlecht, fast keine Ehe hält mehr ein Leben lang. Dass sich auch Homosexuelle neben ihrem in der Subkultur abgefeierten Anderssein nach der stetig verblassenden bürgerlichen Normalität sehnen, verleiht ihrem Kampf für Kunstreich »etwas Tragisches, weil in ihm, so aussichtslos er erscheinen mag, noch etwas aufscheint vom großen Versprechen individuellen Glücks«. Dabei würde das volle Recht zu heiraten und Kinder zu haben, so der 49-Jährige, die Schwulen und Lesben überhaupt erst in die Lage versetzen, nicht mehr als Angehörige einer Minderheit, sondern als Staatsbürger selbstbewusst gegen Heteronormativität einzutreten.

Wie der Weg dorthin vielleicht aussehen könnte, zeigt ein weiterer Spielfilm aus dem Jahr 2014. Die grandiose britische Produktion »Pride« beruht auf einer wahren Begebenheit und spielt 1984 im England der Ära Thatcher: Tausende Bergarbeiter werden durch einen beispiellosen Schlag der britischen Regierung gegen die Gewerkschaften arbeitslos. Der schwul-lesbische Aktivist Mark Ashton erfährt davon im Fernsehen und beschließt, sich mit den Arbeitern zu solidarisieren. Nach einer mühseligen Annäherung beider Lebenswelten gelingt der vereinte Kampf und die »Gay Pride«-Demonstration verknüpft die homosexuelle Emanzipation mit dem Streik der britischen Bergarbeiter.

Am Ende scheitert die unvermutete Allianz zwar an der konservativen Übermacht, der Film eröffnet aber zumindest eine greifbare Perspektive. Mark sieht aus, als interessiere er sich nur für Mode, Disko und Jungs. Doch er bekämpft die Entpolitisierung der Homobewegung, legt sich mit den Organisatoren der »Gay Pride«-Parade an, die politische Banner verbieten und lieber einen schrillen Karneval veranstalten wollen. Das erinnert an heutige Konflikte um den »Christopher Street Day«, den die Gendertheoretikerin Judith Butler 2010 als kommerzielle Veranstaltung kritisierte, welche zu unkritisch sei gegenüber Krieg und Rassismus.

Als zentrales musikalisches Motiv firmiert in »Pride« sicher nicht zufällig »Karma Chameleon« von »Culture Club« - ein Song, der zum Arbeitereinheitsfrontlied der Schwulen taugt. Denn Boy George singt darin, wie er einmal in einem Interview sagte, von der Furcht, sich für eine Sache zu engagieren und von der Tendenz, sich stattdessen bei allen einzuschleimen (»I’m a man without conviction« - Ich bin ein Mann ohne Überzeugung). In Kombination mit seinem fast militärischen und damit an Arbeiterlieder gemahnenden Rhythmus ruft der ironische Text dazu auf, sich zu verbünden und für seine Sache einzutreten.

Die bittere Ironie der Wirklichkeit liegt darin, dass später die sozialdemokratische Labour Party unter Tony Blair ausgerechnet dieses Lied wählte, um den politischen Gegner im Wahlkampf zu kompromittieren. War doch gerade Blair jenes Chamäleon, das bunt gesprenkelt für die Homo-Ehe eintrat und zugleich die letzten Trümmer des Sozialstaats verschwinden ließ. Dem neoliberalen Motto »Wir sind für alles offen, nur bitte nicht für die Armut«, das sich darin ebenso wie in »Coming In« entfaltet, widersetzen sich die Aktivisten in »Pride« durch einen kämpferischen und letztlich hoffnungsvollen Slogan: »Wir sind für alle offen, die auf unserer Seite stehen.«