nd-aktuell.de / 05.03.2016 / Kultur / Seite 24

Geschichte einer Bewegung

Bildungsrauschen

Lena Tietgen

Im Jahr 2000 veröffentlichte eine kleine Gruppe Studierender der Wirtschaftswissenschaften an der Sorbonne in Paris in der Tageszeitung »Le Monde« eine Protestnote. Sie wandten sich darin gegen eine »autistische Wissenschaft«, wie sie die »Mainstream Ökonomie« bezeichneten. Ihre Kritik richtete sich gegen den Hang zum neoklassischen Monotheismus, gegen das Denkmodell der Nutzenmaximierung, der Knappheit von Ressourcen und der Problemlösung anhand einer mathematischen Formelsprache. (beckenbach.uni-kassel.de). Um die Wirtschaftswissenschaften »aus ihrem autistischen und sozial unverantwortlichen Zustand zu retten«, forderten die Studenten eine »post-autistische Ökonomik«, die sich als eine pluralistische Wissenschaft verstehen müsse.

Dieser Gedanke breitete sich schnell aus. Unterstützt wurden die Forderungen von einer Reihe von Wissenschaftlern und Hochschullehrern. Die französische Regierung setzte eine Kommission zur Überarbeitung der Curricula ein. Zeitgleich entwickelte der englische Ökonom Edward Fullbroock den »elektronischen post-autistic economics newsletter« (später »post-autistic economics review«), der schnell den Status eines wissenschaftlichen Journals erhielt.

Der Druck war groß. Noch im Oktober 2000 reagierten die konservativen Ökonomen - ebenfalls in »Le Monde« - und sprachen sich gegen die neue Bewegung aus. Doch diese breitete sich international aus. US-Politikwissenschaftler gründeten im November 2000 das »Perestroika-Movement«, das sich gegen die Dominanz der »Public-Choice-Ansätze« (Ökonomische Theorie der Politik) in den Politikwissenschaften aussprach. Im Winter 2001 entstanden Gruppen der »post-autistischen Ökonomik« in Australien, China, Spanien und der Türkei. Und im Juni 2001 verfassten Doktoranden der Cambridge University die Petition »Open up econonmies«.

An Deutschland ging die Bewegung zunächst vorüber. Erst 2003 ging von der Attac-Sommerakademie ein Impuls aus. Studierende aus Berlin, Heidelberg und Regensburg fanden sich im November des Jahres zu einem Arbeitskreis »post-autistischer Ökonomie« zusammen, der sich 2007 als Verein konstituierte und sich 2012 in »Netzwerk Plurale Ökonomik e.V.« umbenannte. Zielsetzung dieses Verein ist es, »der Vielfalt ökonomischer Theorien Raum zu geben, die Lösung realer Probleme in den Vordergrund zu stellen sowie Selbstkritik, Reflexion und Offenheit in der VWL zu fördern«. Seine Mitglieder suchen gezielt auch den Austausch mit der außeruniversitären Gesellschaft, mit Politik und medialer Öffentlichkeit.

Initiativen aus England, Frankreich, Brasilien, Indien und dem »Netzwerk Plurale Ökonomik« aus Deutschland schlossen sich 2014 zum Aufruf »International Student Initiative for Plural Economics« (ISPE) zusammen und wiesen noch einmal nachdrücklich auf die »negativen gesellschaftlichen Auswirkungen der einseitigen Volkswirtschaftslehre« hin. (plurale-oekonomik.de).

Lena Tietgen