Von Bandwurmwörtern und Adverbialattacken

Sieben Tage, sieben Nächte: Wolfgang Hübner über eine Sprache nach dem Motto: Schneller, kürzer, prägnanter

Gleich in einer der ersten Ausgaben seiner »Berliner Abendblätter« hat Heinrich von Kleist richtig geklotzt. »Freimüthige Gedanken bei Gelegenheit der neuerrichteten Universität in Berlin« hieß die Schlagzeile auf der Titelseite des Blattes, das Anfang des 19. Jahrhunderts ein halbes Jahr lang die Presselandschaft der Preußenmetropole aufmischte. Die Gedanken zogen sich - wohl wegen ihrer Freimütigkeit - in die Länge, so dass der Text sich über drei Ausgaben erstreckte. Immer auf der Titelseite, immer mit der gleichen sperrigen Überschrift.

Das war vor etwas mehr als 200 Jahren. Die Theorie und Praxis des Schlagzeilen-Erfindens steckte damals noch in den Anfängen. Das »neue deutschland« kann immerhin auf beinahe schon 70 Jahre zurückblicken und hatte vor allem in den ersten gut vier Jahrzehnten ebenfalls einen Hang zu opulenten Überschriften. Sie waren außerdem noch stapel- und abwaschbar und konnten beliebig oft wiederverwendet werden. Heute würde man das Recycling nennen. Klassiker wie »Parteilehrjahr - eine bewährte Schule unserer Weltanschauung« oder »Hunderttausende Berliner bereiteten Leonid Breshnew ein begeistertes und herzliches Willkommen in der DDR« wurden bei Bedarf gern genommen. Und der Bedarf war immer wieder da.

Inzwischen muss alles schneller, kürzer, prägnanter gehen. Sprachwissenschaftler beobachten einen Trend zur Kurzsprache, auch unter dem Einfluss von Migranten. »Kommst du Bahnhof?«, heißt es etwa. Oder: »Guckst du Rucksack!« Knapp, aber verständlich. Sprache lebt eben; sie entwickelt sich und pfeift auf Vorschriften. »Ein Blick Buch, zwei Leben«, wie schon Goethe feststellte.

Damit gerät die massive Sprachmauer ins Wanken, die womöglich bereits die alten Germanen errichtet hatten, um Zuwanderer fernzuhalten. Wer geht schon gern zum Sprachtest, wenn er dort mit Konjunktivfallen, Adverbialattacken, Genitivketten und Bandwurmwörtern kämpfen soll? Daran scheitern ja selbst viele Deutsche. Es würde uns nicht wundern, wenn im Geheimlabor der CSU zum Zwecke der Abschreckung von Migranten an ein paar neuen Fällen, sieben weiteren Zeitformen sowie Konjunktiv 3 und Partizip III bis VI geforscht würde.

Aber es wird nichts nützen. Die Zuwanderer kommen und werden unsere Sprache verändern. nd-Überschriften könnten dann so aussehen: Flüchtlinge gehen Europa. Merkel geht vierte Amtszeit. NPD geht verboten. Seehofer geht - nein, Seehofer geht gar nicht.

Ein Vorkämpfer der Kurzsprache war übrigens Franz Müntefering: »Fraktion gut, Partei auch.« - »Der kann Kanzler.« Solche Sentenzen. Wir für unseren Teil stellen fest: Redaktion gut, Zeitung auch. Ihr könnt jetzt Wochenende. Aber Montagfrüh gleich wieder Briefkasten!

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