nd-aktuell.de / 15.03.2016 / Kultur / Seite 23

Überrasche dich selbst!

Peter Handke: Danksagung an die Dauer, die mit dem Lidschlag liiert ist

Hans-Dieter Schütt

Die Welt, das ist Urschmerz und: dessen Wiederkehr zu allen Zeiten und Zuständen. Dies bleibt so etwas wie die Erstwahrheit. Aber was da abgründig war und also wiederkommt, das soll gefälligst zu seiner Zeit für sich selber sorgen. Lassen wir das mal auf sich beruhen. Halten wir uns an die lebensspendenden Zweitwahrheiten, die Zwischenräume, das Erträgliche, das Anschauliche, Bild, Klang, Körper, Erregung, Berührung, Gebärde, Geschmack.


Peter Handke: Vor der Baumschattenwand nachts[1]. 80 Zeichnungen des Autors
Jung und Jung. 424 S., geb., 28 €


Lassen wir uns auf das Vergängliche ein, als wäre es das Äußerste. Die lebbare Wahrheit: Vergänglichkeit vergoldet sich in dem, was durch meine Teilhabe an einem Kunstgeschehen - wirklich und fassbar wird. Kunstgeschehen? Damit sei immer wieder dies eine Reale gemeint: Etwas - zerbrechlich! - Schönes setzt sich vor das Unerträgliche. Es setzt sich nicht. Es muss bewegt werden. Peter Handke bewegt.

Nach »Geschichte des Bleistifts«, »Das Gewicht der Welt«, »Phantasien der Wiederholung«, »Am Felsfenster morgens« und »Gestern unterwegs« legt der bei Paris lebende Dichter nunmehr mit »Vor der Baumschattenwand nachts« ein weiteres Skizzen- und Notizenwerk vor.

Man darf wohl sagen, dass sich diese Bücher einreihen in die Phalanx der großen Augenblicks-Aufzeichnungen - von Friedrich Hebbel, Paul Valéry, Fernando Pessoa, E.M Cioran. Elias Canetti oder Martin Walser und Botho Strauß. Etüden der Aufmerksamkeit und der ungeschützten Selbstversicherung. Danksagungen an die Dauer, die mit dem Lidschlag liiert ist. »Zeichen und Anflüge von der Peripherie 2007-2015« heißt es zur näheren Bestimmung der Texte im neuen Buch.

Da muss ein Mensch - vergesellschaftet gleichsam mit Blättern, Steinen, Schneeluft und Daseinstränen - nichts mehr erproben im Widerstreit mit Welten, die nur immer von Falschheit zu Falschheit wechseln. Er ist sich seiner sicher im Abseits. Singt Einzelsätze als Reinigungshymnen wider die Despotie der Maskierungen. Und zwischendrin Bleistiftzeichnungen - Schwalbennester, Regenschlieren, Säulen, Waldbrandspuren.

Die Texte enden nie mit einem Punkt oder einem anderen Satzzeichen. Als verweigere sich der Autor jeglichen Abschlusses, jeder Fest-Schreibung, als sei alles in einer Schwebe, die nicht zerstört werden darf durch definitives Verhalten.

Wie Brecht es sagte: »In mir wächst ein Gefühlchen gegen die Zweiteilung (stark - schwach; groß - klein; glücklich - unglücklich; ideal - nicht ideal). Es ist doch nur, weil die Leute nicht mehr als zwei Dinge denken können. Mehr geht nicht in ein Spatzengehirn. Aber das Gesündeste ist doch einfach: lavieren.«

Lavieren: unentschieden bleiben, sich nach allen Seiten hin konzentrieren, Mitte verlieren mit Absicht, aber ohne Ansinnen. Handke: »Nicht: Erkenne dich selbst!, sondern Überrasche dich selbst!«

Das Augenblickliche immer wieder als schönster Zwischenfall gegen das Berechnete und Berechnende. Denn: Solange man noch unglücklich sein kann, kann man doch auch noch glücklich sein. Also weitläufig werden und bleiben in all den Verengungstendenzen. Glücklichsein ist doch schon nahe, so lese ich diese Miniaturen, wenn man nicht dauernd denkt: Hätte ich doch, als ich lebte, gelebt.

»Wer keinen Sinn hat für das Geheimnis der Welt, der hat auch keinen Sinn für sonst etwas, schon gar nicht für den Frieden auf Erden.« Handke entdeckt in Alltagssekunden jenen untilgbaren Rest an Unverhofftem, der sich jeder Auslieferung an den täglichen Darwinismus entzieht. Ein wesentlicher Trug unserer Erfahrungs- und Sinneswelt besteht ja darin, dass sie eine kreatürliche Neigung besitzt, stets mehr Ordnung, mehr Schlüssigkeit, mehr Übersicht und Kontinuität herzustellen, als tatsächlich vorhanden ist. Und uns gut tut.

Manchmal könnte man glatt sagen: Solange man noch Zeitung liest, ist einem nicht zu helfen.

Handke bietet Hilfe an. Im Buch blitzen viele, viele Momente auf, in denen das »Dasein ästhetisch gerechtfertigt« ist (Nietzsche). Diese Sätze bewegen sich aus vielen geografischen, literarischen Richtungen auf eine Erkenntnis zu: Niemanden überzeugen, auch nicht sich selbst - tastend leben, nicht durchblickend. Eben: lavieren.

So bekräftigt sich bei Handke einmal mehr jene Ahnung, nach der eine Fantasie vielleicht um so üppiger, ein Innenleben möglicherweise um so reicher ist, desto unauffälliger, ambitionsfreier und unspektakulärer ein Leben nach außen hin verläuft. Fantasie ist - Erfahrung. In just dieser Sache.

Friedrich Schlegel sah das Fragment »gleich einem kleinen Kunstwerk von der umgebenden Welt ganz abgesondert und in sich selbst vollendet wie ein Igel«. Das Gebundene, aber zuchtlos.

Handke setzt fort. Er ahnt mit den Augen, was ihm die Worte dann auf eine sehr eigene Weise sagen werden. Wahrnehmung im Gnadenstand einer gesteigerten, beinahe betenden Sprache, und im Ausdruck, den der Streuner für das tausendfarbige Stillleben des Daseins findet - darin offenbart sich dem Leser ein unbezwingbarer, so sanfter wie entschiedener Sinn für die Wunder des Profanen.

Die allgemeine Lage ist doch so: Die Gedanken springen, die Bilder flackern, die Szenen huschen, die Zusammenhänge gehen enttäuscht auseinander, die Erzählungen leiden unter Atemnot, die Zeiten haben keine Zeit mehr, das Flüchtige thront, die Biografien splittern.

Handkes Aufzeichnungen dagegen kommen aus gütig, gütlich gefundener Ruhe. »Wie zur Ruhe finden? Durch Irrtum und Irrtumsbetrachtung«.

Links:

  1. http://www.nd-aktuell.de/shop/article/9783990270837